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sich später ansehen zu können. Zunächst glaubte er, bei den Dateien handele es sich um eine Art umfangreiches Pressedossier zu der Entführung und dem Mord an dem Mädchen. Doch je weiter er seine Entdeckungsreise fortsetzte, umso klarer wurde ihm, warum Madeline alles unternommen hatte, um den Zugang zu den Daten zu schützen. Die junge Polizistin hatte die gesamten Akten ihres letzten Falls gescannt, kopiert und dupliziert! Das Dossier enthielt ihre eigenen Notizen, die Auswertung von Fingerabdrücken, Videos von den Verhören der Verdächtigen, während diese in Untersuchungshaft waren, Fotos und detaillierte Beschreibungen der Beweisstücke, seitenlange Protokolle von Nachbarschaftsbefragungen, die den offiziellen Stempel der Greater Manchester Police trugen und nie das Kommissariat oder das Gericht von Manchester hätten verlassen dürfen …
»Was ist das, Papa?«, fragte Charly, der eine Serie von grauenvollen Fotos auf dem Bildschirm des Computers entdeckte, beunruhigt.
»Sieh nicht hin, mein Liebling, das ist nichts für Kinder«, antwortete Jonathan und drehte das Notebook um.
Er überprüfte die Übertragungsgeschwindigkeit. Trotz WLAN war sie nur langsam, und seine Transaktion würde noch gut zwei Stunden dauern.
»Komm, wir machen ein Basketball-Match mit Onkel Marcus«, schlug er fröhlich vor.
Sie gingen zu einem der eingezäunten Plätze an der Levi’s Plaza. Das Spiel begann. Charly gab alles, und nachdem er etwa zwanzig Bälle im Korb gelandet hatte, kehrte er erschöpft nach Hause zurück. Er duschte, aß ein Stückchen von seinem Fisch und schlief dann vor dem Fernseher bei einer Folge von Two and A Half Men ein.
Jonathan trug ihn in sein Zimmer. Draußen war es dunkel geworden. Marcus rauchte auf der Terrasse seinen Joint so genussvoll, als wäre es eine Havanna, und plauderte mit Boris.
Jonathan suchte im Eisfach des Kühlschranks, bis er schließlich eine Flasche Kirsch-Wodka fand, die ihm ein Gast mitgebracht hatte. Er schaltete seinen Computer ein und schenkte sich ein Glas von dem Schnaps ein, der – wenn man dem Etikett glauben durfte – über Buchenholzkohle destilliert und diamant-gefiltert war.
»Na, wenn’s weiter nichts ist …«
Er vergewisserte sich, dass alle Daten auf seine Festplatte übertragen waren. Madeline hatte nicht Dutzende sondern Hunderte von Dokumenten mitgenommen. Insgesamt bildeten an die tausend Elemente ein tragisches und makabres Puzzle. Offenbar hatte sich die junge Polizistin sechs Monate lang ganz auf diesen Fall konzentriert, der schließlich ihre Psyche und ihre Gesundheit ruiniert hatte. Eine schmutzige Geschichte, die sie beinahe das Leben gekostet hätte …
Jonathan öffnete die letzten übertragenen Fotos: Sie waren unerträglich. Er zögerte. Hatte er wirklich den Mut und die Lust, sich in eine Geschichte von Kindesentführung und Mord zu vertiefen?
Die Antwort war: nein.
Trotzdem leerte er sein Glas Wodka in einem Zug, schenkte sich nach und begab sich in die Hölle.
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Zweiter Teil
Der Fall Alice Dixon
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Kapitel 12
Alice
Es geschah in jenem grünen und verrückten Sommer, als Frankie zwölf Jahre alt war. Es war jener Sommer, wo sie ganz allein war. Sie gehörte zu keinem Klub noch zu sonst was auf der Welt. Sie war ohne Freunde, trieb sich in der Stadt herum und fürchtete sich.
Carson McCullers,
Frankie
Drei Jahre früher
8. Dezember 2008
Polizeirevier von Cheatam, im Nordosten von Manchester
Madeline hob die Stimme:
»Das müssen Sie mir genauer erklären, denn ich verstehe es immer noch nicht. Warum haben Sie ACHT TAGE gewartet, um das Verschwinden Ihrer Tochter zu melden?«
Erin Dixon, blass und mit strähnigem Haar, rutschte ihr gegenüber auf ihrem Stuhl herum. Sie fühlte sich ganz offensichtlich unwohl, ihre Hände zitterten, die Lider flatterten, und sie spielte nervös mit ihrem Kaffeebecher.
»Sie wissen doch selbst, wie die Jugendlichen sind, verdammt noch mal! Sie kommen und gehen, wie’s ihnen passt. Außerdem habe ich Ihnen ja gesagt, dass Alice sehr selbstständig ist und allein klarkommt, sie …«
»Sie ist gerade mal vierzehn«, fiel ihr Madeline kalt ins Wort.
Erin schüttelte den Kopf und bat um Erlaubnis, draußen eine Zigarette zu rauchen.
»Kommt gar nicht infrage!«, erklärte die Kommissarin.
Sie kniff die Augen zusammen und machte eine Pause. Die Frau, die sie verhörte, war dreißig Jahre alt (genau wie sie selbst), doch es fehlten ihr mehrere
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