Nachricht von dir
Zähne, und ihr vom grellen Neonlicht erhelltes Gesicht war von Müdigkeit gezeichnet und wies mehrere Blutergüsse auf.
Erin, die sich seit einer Stunde in dem Revier befand, hatte bereits alle Stadien durchlaufen: Zunächst Tränen, als sie ihre Tochter vermisst meldete, dann im Laufe des Verhörs Aggression und Wut. Sie war nicht imstande, zwei zusammenhängende Sätze herauszubringen oder zu erklären, warum sie eine Woche hatte verstreichen lassen, ohne etwas zu unternehmen.
»Und ihr Vater, was hält der davon?«
»Der ist schon lange weg … Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht mal genau, wer es ist. Damals habe ich mit allen möglichen Männern geschlafen, ohne zu verhüten …«
Plötzlich riss Madeline der Geduldsfaden. Sie hatte fünf Jahre im Drogendezernat gearbeitet und kannte dieses Verhalten in- und auswendig: Die Nervosität und der ausweichende Blick waren eindeutig Entzugserscheinungen. Die feinen Narben um Erins Mund rührten von Verbrennungen durch die Pyrex-Pfeife. Ms Dixon war cracksüchtig. Genau das!
»Komm, wir gehen, Jim«, beschloss Madeline und griff nach ihrem Blouson und ihrer Dienstwaffe.
Während sie noch im Büro ihres Vorgesetzten vorbeischaute, brachte ihr Kollege Erin Dixon zum Parkplatz und zündete ihr eine Zigarette an.
Obwohl es schon zehn Uhr morgens war, vermittelte der verhangene Himmel den Eindruck, es sei noch nicht richtig Tag.
»Die Antwort von der Zentrale aller Notaufnahmen ist gekommen«, erklärte Jim und steckte sein Handy ein. »In keinem Krankenhaus existiert eine Akte auf den Namen Alice Dixon.«
»Darauf hätte ich wetten können!«, entgegnete Madeline und gab kräftig Gas.
Der Ford Focus, der mit Blaulicht und Sirene Richtung Norden raste, kam auf der nassen Fahrbahn leicht ins Schleudern. Eine Hand am Steuer, in der anderen ein Mikro, koordinierte die Hauptkommissarin die ersten Maßnahmen: Übermittlung von Alices Foto an alle Polizeidienststellen des Landes, eine Suchmeldung an die Presse und an die Redaktionen der Nachrichtensender, dringende Anforderung eines Teams der Kriminaltechnik …
»Fahr vorsichtig, du baust noch einen Unfall!«, schimpfte Jim, als Madeline einen Bordstein streifte.
»Meinst du nicht, dass wir schon genug Zeit verloren haben?«
»Eben, da kommt es auf zehn Minuten auch nicht mehr an …«
»Du bist wirklich blöd!«
Die beiden Polizisten durchquerten das Arbeiterviertel Cheatam Bridge. Mit seinen endlosen Reihen roter Backsteinhäuser war es ein typisches Beispiel für die heruntergekommenen Industriesiedlungen an Manchesters Stadtrand. In den letzten Jahren hatte die Labour Party viel Geld in die Sanierung der nordöstlichen Bezirke investiert, doch Cheatam Bridge hatte nicht wirklich von dieser Verschönerungsaktion profitiert. Viele Wohnungen standen leer, die meisten Gärten waren verwildert, und die Krise, die die englische Wirtschaft lähmte, würde die Lage nicht verbessern.
Dieses Viertel kam in den Reiseführern nicht gut weg, doch was sollte man von der Farm Hill Road sagen, wo sich der Häuserblock befand, in dem Alices Mutter wohnte? Eine wahre Enklave des Elends und der Kriminalität. Madeline und Jim folgten Erin Dixon in eine Gasse zwischen verfallenen Gebäuden, die von Squattern, Prostituierten und Crack-Verkäufern besetzt waren.
Als sie das Haus betraten, wurde Madeline fast übel. Das Wohnzimmer war düster und in einem desolaten Zustand: eine Matratze auf dem nackten Boden, mit Holz und Pappe ausgebesserte Fenster, Gestank nach verdorbenen Nahrungsmitteln … Offenbar verdiente sich Erin Geld damit, dass sie den Junkies diesen Raum als »Shootodrome« überließ. Obwohl sie damit hatte rechnen müssen, dass die Polizei herkommen würde, hatte sie sich nicht die Mühe gemacht, ihre Aktivitäten zu verbergen: Auf der Fensterbank lag eine aus einer Getränkedose gefertigte Pfeife, daneben leere Bierflaschen und ein Aschenbecher mit einem halb gerauchten Joint. Madeline und Jim wechselten einen skeptischen Blick: Wegen des Publikums, das hier verkehrte, würden die Ermittlungen nicht einfach werden. Sie stiegen in den ersten Stock, öffneten die Tür zu Alices Zimmer und …
Der Raum hatte nichts mit dem Rest des Hauses gemein. Er war zwar dunkel, aber ordentlich aufgeräumt und mit einem Schreibtisch und Regalen voller Bücher eingerichtet. Dank eines Duftzerstäubers roch es angenehm nach Vanille und Iris.
Eine andere Welt …
Madeline hob den Blick und betrachtete
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