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eigene Geschichte geweckt. Wie bei neunundneunzig Prozent aller Kinder in diesem Viertel war Madelines Jugend mit einer depressiven Mutter und einem Vater, der zur Flasche griff, chaotisch gewesen. Als Teenager hatte sie sich geschworen, diesem menschlichen Desaster zu entkommen und ihr Glück woanders zu versuchen. Ihr großer Traum war es gewesen, eines Tages in Paris zu leben. Sie war eine gute Schülerin und hatte später ihre Jura-Examina bestanden, doch dann hatte die Realität des Viertels sie wieder eingeholt, und sie war zur Polizei gegangen. Dort hatte sie schnell Karriere gemacht, war aber in der grauen Tristesse von Cheatam Bridge hängengeblieben.
Sie beklagte sich nicht über ihr Schicksal – im Gegenteil. Ihre Arbeit gefiel ihr, weil sie einen Sinn hatte: Kriminelle unschädlich machen, den Familien Gelegenheit geben, ihre Trauerarbeit abzuschließen, indem sie die Mörder ihrer Angehörigen überführte, und manchmal auch Leben retten. Natürlich war es nicht jeden Tag einfach. Hier, wie auch anderswo, hatte sich in der Polizei Unbehagen breitgemacht. Nicht nur, dass die Beamten nicht mehr respektiert wurden, nein, ihr Status brachte ihnen auch Beschimpfungen und Drohungen ein. Das war zwar überall so, mehr aber noch in einem Milieu wie in Cheatam Bridge. Die Kollegen, die hierher versetzt wurden, verschwiegen den Nachbarn gegenüber ihren Beruf und rieten ihren Kindern, in der Schule dasselbe zu tun. Die Leute mochten die Bullen aus den Fernsehserien, die aus ihrem Viertel aber spuckten sie an. Es galt also, den täglichen Stress, die Anfeindungen der Bevölkerung und das Desinteresse der Vorgesetzten zu erdulden. Man musste hinnehmen, dass die Autos mit Steinen beworfen wurden, und sich mit vorsintflutlichem Arbeitsmaterial zufriedengeben: Viele der Einsatzwagen verfügten nicht einmal über Funkgeräte, und manche Computer liefen noch mit Pentium- II -Prozessoren …
Bisweilen war der Job schwer zu ertragen. Man durchlebte innerlich quasi selbst die Absurdität tödlicher Unfälle, das Leid der geschlagenen Frauen, das Grauen der missbrauchten Kinder, den Schmerz der Angehörigen der Opfer.
Manche hielten dem Druck nicht stand, und es kam zu Kurzschlusshandlungen. Letztes Jahr hatte ein Ermittler ihrer Einheit durchgedreht und ohne offensichtlichen Grund einen kleinen Gang-Chef bei der Festnahme erschossen; vor sechs Monaten hatte eine junge Polizeianwärterin im Revier mit ihrer Dienstwaffe Selbstmord begangen.
Im Gegensatz zu vielen ihrer Kollegen war Madeline weder desillusioniert noch depressiv. Sie war freiwillig in diesem schwierigen Viertel geblieben, um schneller befördert zu werden. Weder die alten Haudegen noch die Berufsanfänger hielt es hier lange. Das bot gute Karriereperspektiven. Im Lauf der Jahre hatte sie sich Respekt verschafft und verfügte über eine gewisse Autonomie, die es ihr ermöglichte, nur die »interessantesten« Fälle zu übernehmen, die oft auch die brutalsten und blutigsten Verbrechen waren.
»Sie ist nicht abgehauen, stimmt’s?«, fragte Jim, der zu ihr getreten war.
»Nein, wenn sie ausgerissen wäre, hätten wir sie wahrscheinlich längst gefunden, und vor allem hätte sie die fünfzig Pfund mitgenommen.«
»Bei dem, was die Mutter auf ihrem Bankkonto hat, kann man wohl auch die Möglichkeit einer Entführung mit Lösegeldzahlung ausschließen.«
»Mit Sicherheit«, stimmte Madeline zu. »Aber wir werden auf alle Fälle diese vielen Süchtigen in ihrer Umgebung unter die Lupe nehmen. Bei den Typen könnte es sich um einen Racheakt oder um Erpressung handeln.«
»Wir finden sie bestimmt«, versicherte Jim, um sich selbst Mut zu machen.
Man war schließlich nicht in den USA oder in einem Krimi: Im heutigen England gab es nur wenige Fälle, in denen das Verschwinden von Minderjährigen nicht aufgeklärt wurde.
Zwei Jahre zuvor hatten Madeline und Jim die Ermittlungen im Fall eines aus dem Garten seiner Eltern entführten Kindes geleitet. Diese hatten sofort die Polizei alarmiert, und man hatte innerhalb kürzester Zeit eine umfassende Suchaktion starten können. Schon nach wenigen Stunden waren die Entführer dank eines Hinweises auf ihren Wagen gefasst worden und hatten sofort gestanden. Noch vor Einbruch der Nacht hatten sie den Jungen, in einer Hütte gefesselt aber bei guter Gesundheit, gefunden.
Als sie an diesen Fall dachte, der zeigte, wie wichtig ein schnelles Eingreifen war, konnte Madeline ihre Wut nicht zurückhalten.
»Verdammt, was
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