Nachricht von dir
sprang aus seinem Luxusschlitten und eilte zu Madeline.
»Es … es tut mir leid! Aber Sie haben mich regelrecht geschnitten!«
Madeline nahm das Ausmaß des Schadens zur Kenntnis: Ihr Lederblouson war abgeschabt, ihre Jeans zerrissen, Hände und Unterarme waren aufgeschürft, ihr war nichts Ernsthaftes passiert.
»Ich rufe einen Krankenwagen«, rief LaTulip und zückte sein Handy.
»Ich glaube, das ist nicht nötig«, versicherte Madeline und nahm ihren Helm ab.
Sie schüttelte ihr Haar aus und bedachte ihn mit einem bezaubernden Lächeln.
Ein Schimmer des Verlangens blitzte in seinen Augen auf: Sein Jagdinstinkt war geweckt.
Als sie seine Hand ergriff, die er ihr reichte, um ihr aufzuhelfen, wusste Madeline, dass es ihr gelungen war, einen Fuß in die Tür zu setzen.
Das war die Phase Nummer 1: den Feind infiltrieren.
San Francisco
Jonathan öffnete die letzte Datei. Auf dem Bildschirm erschien die Vermisstenanzeige von Alice Dixon, die in ganz England plakatiert worden war. In der Mitte war das Foto eines etwa fünfzehnjährigen Mädchens mit blondem, glattem Haar, einem traurigen Lächeln und sehr blasser, sommersprossiger Haut zu sehen. Man hatte sich für diese Aufnahme entschieden, da sie dasselbe Sweatshirt trug wie am Tag ihres Verschwindens: ein wattierter rosa-grauer Kapuzenpullover der Marke Abercrombie & Fitch. Er war etwas zu groß, und sie hatte ihm eine persönliche Note verliehen, indem sie das Abzeichen der Fußballmannschaft Manchester United daraufgenäht hatte.
Bei der Sichtung der verschiedenen Dokumente zum Fall Dixon hatte sich Jonathan vor allem auf Madelines persönliche Aufzeichnungen und die offiziellen Unterlagen der Ermittlungen konzentriert. Dies war das erste Foto von Alice, das er sich genauer ansah.
Als es auf seinem Bildschirm erschien, verschlug es ihm den Atem. Unbehagen überkam ihn. Dann traf sein Blick auf den von Alice, und sein Magen krampfte sich zusammen.
Er kannte dieses Mädchen.
Er war ihr begegnet.
Er hatte mit ihr gesprochen.
Vor Schreck wie gelähmt, klappte er seinen Laptop zu. Sein Herz begann zu rasen, seine Hände zitterten. Um wieder zur Ruhe zu kommen, holte er tief Luft, doch es half nichts.
Die Erinnerung an eine Begegnung, die in seinem Bewusstsein eine unauslöschliche Spur hinterlassen hatte, drängte mit Macht an die Oberfläche. Er versuchte, sie zu unterdrücken, doch er war zu erschüttert und hatte das Gefühl, vor Angst zu vergehen.
Er musste sich Klarheit verschaffen.
‹
Kapitel 18
Hypnotisch
Am schmerzlichsten sind jene Qualen,
die man frei sich selbst erschuf.
SOPHOKLES,
König Ödipus
San Francisco
Montag, 19. Dezember
22:30 Uhr
Zwei Blocks von der Grace Cathedral entfernt stieg Jonathan aus dem Cable Car. Die Stadt war in weißen Nebel gehüllt, der die Geräusche erstickte und einen mysteriösen Schleier über die Straßen legte. Er verließ die Powell Street und erreichte nach einigen hundert Metern das Lenox Hospital.
»Ich habe einen Termin bei Doktor Morales«, erklärte er am Empfang.
Man bat ihn, in der Halle zu warten. Er ließ sich auf eines der Sofas fallen und zog ein Blatt Papier mit dem Foto von Alice aus der Tasche.
Das Gesicht des Mädchens hatte ihm den ganzen Tag über keine Ruhe gelassen. Er hatte alles versucht, um die Erinnerung zu verdrängen und sich einzureden, dass er sich täuschte, doch es half nichts. Als er Alice Dixon begegnet war, hatte sie dunkles Haar gehabt und behauptet, ihr Name sei Alice Kowalski. Sie trug denselben rosafarbenen Pullover, und der Ausdruck ihrer Augen war ebenso verletzt.
»Guten Abend, Jonathan.«
»Guten Abend Ana-Lucia«, erwiderte er und hob den Blick zu der hübschen jungen Frau mit der dunklen Haut und dem tiefschwarzen Haar.
Doktor Morales strahlte eine schlichte Eleganz aus. Sie war nicht sehr groß und trug ihren Arztkittel offen über ihrer taillierten Bluse, die ihre schlanke Figur vorteilhaft zur Geltung brachte.
»Kommst du mit in mein Büro?«
Mit entschlossenem Schritt folgte er ihr in den Aufzug.
»Wir haben uns lange nicht gesehen«, meinte Ana-Lucia und drückte auf den Knopf zur sechsten Etage.
»Etwas mehr als ein Jahr«, stimmte Jonathan zu.
Auf dem Weg nach oben herrschte Schweigen. Er hatte Ana-Lucia in seinen ersten Monaten in San Francisco kennengelernt. Eine schwierige Zeit in seinem Leben. Die Psychiaterin war ihm vom Elliott Cooper, einem Chirurgen des Krankenhauses, empfohlen worden.
Weitere Kostenlose Bücher