Nachricht von dir
obwohl es Ihnen nicht gut ging, um mich gekümmert und versucht haben, mich zum Lachen zu bringen.
Das mit Ihren finanziellen Problemen und mit Ihrer Frau tut mir ernsthaft leid. Vielleicht regeln sich die Dinge zwischen ihr und Ihnen eines Tages. Vielleicht aber war es auch ganz einfach nicht die Liebe Ihres Lebens.
Lange Zeit war ich nicht glücklich. Wenn ich richtig traurig war, klammerte ich mich an einen Satz, der Victor Hugo zugeschrieben wird und den ich auf die erste Seite meines Tagesbuchs kopiert habe. » Die schönsten Jahre eines Lebens sind die, die man noch nicht gelebt hat. «
Take care of yourself, Jonathan.
Alice
Als ich diese Worte las, gewann das Leben plötzlich die Oberhand, und ich brach, allein in meinem Wagen, in Tränen aus wie ein Idiot.
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Kapitel 20
Das Leben
Mein Übel kommt von weit her.
Flannery O’Connor,
Everything That Rises Must Converge
San Francisco
Montagnacht 2 Uhr
Als Jonathan den Kopfhörer abnahm, merkte er, dass eine Träne über seine Wange lief. Dieses Eintauchen in die Mäander der dunkelsten Phase seines Lebens war äußerst schmerzhaft gewesen.
Diese Alice Kowalski, deren Weg er gekreuzt hatte, sollte in Wirklichkeit Alice Dixon, das Opfer des Schlächters von Liverpool, gewesen sein?
Immer wieder prüfte er die Daten – irgendetwas war da nicht stimmig. Madeline hatte das Paket mit dem herausgeschnittenen Herz von Alice am 15. Juni 2009 erhalten. Das wissenschaftliche Labor hatte das Organ eindeutig als das des verschwundenen Mädchens identifiziert – die DNA -Analyse sei hundertprozentig, und es sei kein Zweifel möglich, hatte es in dem Bericht sogar geheißen.
Jonathan aber war Alice Kowalski in der Silvesternacht 2009 begegnet.
Mehr als sechs Monate später!
Er schraubte die Wodkaflasche auf und schenkte sich nach. Er stand noch immer unter Schock, versuchte aber, die Nerven zu behalten und alle Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, zu ordnen.
Erste Hypothese: Die beiden Mädchen hatten nichts miteinander zu tun. Das Ganze war reiner Zufall – der gleiche wattierte Kapuzenpullover, das gleiche Abzeichen der Fußballmannschaft, die gleiche Musikleidenschaft, das gleiche Aussehen. Schwer vorstellbar, aber warum nicht …
Zweite Möglichkeit: Alice hatte eine Zwillingsschwester, von der niemand wusste. Nein. Das war Blödsinn. Warum sollte die eine in einer reichen amerikanischen Familie leben und die andere in einem Armenviertel von Manchester?
Dritte Option: Die beiden Mädchen waren dieselbe Person. In dem Fall hatte sich das Labor bei der DNA -Analyse geirrt (wenig wahrscheinlich), oder Alice hatte sich einer Herztransplantation unterzogen (kaum glaubwürdiger, ganz abgesehen davon, dass das bei der Polizei eingegangene Herz nicht professionell entnommen worden war).
Letzte Eventualität: Eine übernatürliche Erklärung à la Reinkarnation, aber wer würde ernsthaft an so einen Unfug glauben?
Jonathan dachte noch eine Weile nach, bis ihm klar wurde, wie spät es schon war. Er ging ins Bett, konnte aber nicht einschlafen. Vom ersten Tag an hatte er dieses verrückte Gefühl gehabt, dass das Leben von Madeline und sein Leben durch einen unsichtbaren Faden verbunden waren. In dieser Nacht hatte er das fehlende Glied entdeckt: Alice.
Madeline, Alice …
Ersterer schuldete er eine Erklärung.
Letzterer weit mehr.
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Kapitel 21
The Wild Side
Schwindel ist etwas anderes als Angst vor dem Fall. Schwindel bedeutet, dass uns die Tiefe anzieht und lockt, sie weckt in uns die Sehnsucht nach dem Fall, eine Sehnsucht, gegen die wir uns dann erschrocken wehren.
Milan Kundera,
Die unerträgliche
Leichtigkeit des Seins
Paris, Montparnasse
Dienstag, 20. Dezember
19:20 Uhr
Vor dem Spiegel ihrer Wohnung inspizierte Madeline ihren Kampfdress: elegantes, diskretes Make-up, High Heels, um die Figur zu strecken, kleines Schwarzes aus Taft und Seide. Das Wichtigste war die Länge – nicht zu kurz und nicht zu lang, genau bis zum Knie. An diesem Abend fühlte sie sich wie »im Dienst«, und angesichts der Sexbomben, die durch LaTulips Bett hüpften, musste sie verführerisch sein, wenn sie ihm eine Falle stellen wollte.
Sie schlüpfte in ihren Gabardinemantel – ein Geschenk von Raphael – und verließ ihre Wohnung mit dem Gefühl, sexy und aufreizend genug zu sein, um den Feind zu täuschen.
Um diese Zeit waren die Straßen hoffnungslos überfüllt. Deshalb entschied sie sich, trotz
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