Nachricht von dir
Alice:
»Waschwillerschondir?«
»Wie bitte?«
Alice spülte den Mund aus und wiederholte:
»Was er von dir will.«
»Er lädt mich morgen Abend ins Café Luxembourg ein!«
»Glückspilz! Findest du nicht, dass er Ähnlichkeit mit Ryan Reynolds hat?«
»Auf jeden Fall hat er einen süßen Knackarsch!«, Lorely kicherte und warf die Tür wieder zu.
Alice schminkte sich mit einem feuchten Reinigungstuch ab. Der Spiegel zeigte ihr das Bild eines hübschen siebzehnjährigen Mädchens mit ebenmäßigen Gesichtszügen, eingerahmt von blondem Haar. Sie hatte eine gewölbte Stirn, schön geschwungene Lippen und hohe Wangenknochen. Ihre dunklen graugrünen Augen hoben sich von dem Alabasterteint ab. Wegen ihres Aussehens und ihres Namens dachten alle Mitschüler, sie sei polnischer Herkunft. Sie hieß Alice Kowalski. Das wenigstens stand auf ihrem Personalausweis …
Sie beendete ihre Toilette, spielte noch ein wenig mit ihrer Mimik, indem sie blitzschnell den Gesichtsausdruck wechselte. Wie bei den Übungen für ihre Schauspielkurse blickte sie mal provozierend, mal schüchtern drein oder zog einen Schmollmund.
Schließlich gesellte sie sich zu Lorely in das gemeinsame Schlafzimmer. Aufgeregt wegen ihres bevorstehenden Dates, hatte die junge afroamerikanische Sängerin die Musik von Lady Gaga aufgelegt und probierte vor dem Spiegel verschiedene Outfits aus: schwarzer Rock und Tweed-Perfecto à la Gossip Girl , Vintage-Kleid im Retrolook, Chloé-Jeans mit farbigem Top à la Cameron Diaz …
»Ich bin hundemüde«, gestand Alice und schlüpfte unter die Bettdecke.
»Das ist normal. Heute Abend warst du die Ballkönigin!«
Die hübsche Sopranistin spielte auf die Vorstellung von West Side Story an, in der Alice die Rolle der Maria innehatte – die Jahresabschluss-Aufführung ihres Kurses.
»Fandest du mich wirklich gut?«
»Erstklassig! Du bist fürs Musical genauso begabt wie für die Geige.«
»Danke.« Alices sonst so blasse Wangen waren leicht rosig geworden. Die beiden Mädchen plauderten noch ein Weilchen und ließen den Abend Revue passieren.
»Mist, ich habe meine Handtasche in der Garderobe liegen lassen!«, rief Alice plötzlich.
»Reicht es nicht, wenn du sie morgen abholst?«
»Das Problem ist, dass meine Medikamente darin sind.«
»Die Mittel gegen Organabstoßung?«
»Die auch, aber vor allem die Pillen gegen Bluthochdruck.« Alice hatte sich aufgesetzt und grübelte nach.
»Ich geh schnell runter!«, beschloss sie und sprang aus dem Bett.
Sie zog eine Trainingshose direkt über ihr kurzes Nachthemd und öffnete den Schrank auf der Suche nach einem Pullover.
Automatisch griff sie nach dem obersten auf dem Stapel – ein wattiertes rosa-graues Kapuzensweatshirt mit dem Abzeichen der Fußballmannschaft Manchester United darauf. Das letzte Stück aus ihrem früheren Leben. Sie schlüpfte rasch in ein Paar Turnschuhe, ohne die Schnürsenkel zuzubinden.
»Bei der Gelegenheit hole ich mir Oreo-Kekse und ein Fläschchen Erdbeermilch aus dem Automaten.«
»Bringst du mir ein Päckchen Waffeln mit?«
»Mach ich. Bis gleich.«
Alice verließ das gemeinsame Zimmer und trat auf den Flur. Das Studentenwohnheim, das in den oberen zwölf Stockwerken des Lincoln Center untergebracht war, beherbergte dreihundert Schüler: zukünftige Tänzer, Schauspieler, Musiker aus fünfzig verschiedenen Ländern! Obwohl es bereits spät war, herrschte noch immer geschäftiges Treiben auf den Gängen; viele Studenten packten ihre Koffer, um ihre Familien über Weihnachten zu besuchen.
Während Alice auf den Fahrstuhl wartete, trat sie ans Fenster und betrachtete die Lichter der Gebäude, die sich im Fluss spiegelten. Noch immer euphorisch von der Aufführung, machte sie ein paar Tanzschritte. Ein Gefühl unendlicher Dankbarkeit überkam sie. Was wäre aus ihr geworden, wenn sie in Manchester geblieben wäre? Wäre sie überhaupt noch am Leben? Wahrscheinlich nicht. Hier in Manhattan hatte sie sich entfaltet, und trotz der Spätfolgen der Herztransplantation schwebte sie auf Wolke sieben. Sie, das kleine Mädchen aus Cheatam Bridge, hatte heute Abend in der Titelrolle eines Stücks der bedeutendsten Musik-, Tanz- und Schauspielschule von New York geglänzt.
Plötzlich durchfuhr sie ein Schauer, und sie vergrub die Hände in den Taschen ihres Sweatshirts. Der alte rosa-graue Pullover weckte Erinnerungen, und Bilder von ihrem früheren Leben wirbelten durch ihren Kopf: ihre Mutter, ihr Viertel, ihre Schule,
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