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war das höchste im ganzen Land, die Achterbahn die schnellste, die Geisterbahn die unheimlichste, und seine Freak Show stellte missgestaltete Ungeheuer zur Schau. Mit einem Kabel gesichert, konnte man sogar den Parachute Jump von einem hohen Turm aus wagen.
Doch diese glorreichen Zeiten lagen weit zurück. In dieser kalten Dezembernacht strahlte der Ort nichts von seinem einstigen Glanz und seiner Magie aus. Das Viertel bestand nur noch aus Ruinengrundstücken und Brachland, eingezäunten Parkplätzen und hässlichen Wohnblöcken. In den Sommermonaten drehten sich noch ein paar Karussells. Den Rest der Zeit vermittelte die von Rost und Dreck zernagte Anlage den Eindruck langsamen Verfalls.
»Wenn du fliehen, ich steche dich ab wie Lamm«, drohte Juri und hielt Alice die Messerklinge an den Hals.
Er zerrte sie auf ein schlammiges Grundstück, umgeben von einem Bretterzaun, wo sich ein Rudel Hunde herumtrieb – deutsche Doggen mit gelbem Fell und Augen, die in der Dunkelheit funkelten. Sie waren unterernährt, was sie umso aggressiver machte. Selbst Juri hatte Schwierigkeiten, die Meute zum Schweigen zu bringen. Er schleifte Alice zu einem halb zerfallenen Lagerschuppen, schloss dessen Tür auf und zwang sie, eine Metalltreppe hinunterzusteigen, die in einen engen Tunnel führte. Dort herrschte ein eisiger Luftzug, und es war so dunkel, dass der Russe eine Taschenlampe einschalten musste. Rohre verschiedenster Dicke durchzogen das Untergeschoss. Uralte Motoren und Stromzähler stapelten sich hier an den Wänden. An einer Mauer lehnte ein riesiges bemaltes Holzschild, das für THE SCARIEST SHOW IN TOWN warb und auf dem verschiedene Monster dargestellt waren – Werbung für eine Geisterbahn, eine der Attraktionen vor einem halben Jahrhundert. Allem Anschein nach befanden sie sich im Maschinenraum eines alten Fahrgeschäfts.
Das Licht war schwach, Schatten tanzten an der Wand. Der Schein der Taschenlampe spiegelte sich auf den fauligen Wasserpfützen. Am Ende des Untergeschosses schreckten sie eine Schar von dicken Ratten auf, die in ihrer Panik fiepten und in alle Richtungen davonstoben. Tränen rannen Alice über die Wangen. Sie wollte zurückweichen, doch Juri drohte erneut mit der Messerklinge und zwang sie auf eine Wendeltreppe, die in die Tiefen der Lagerhalle führte. Dort ging es an einem Dutzend verrosteter Eisentüren vorbei.
Am Ende des Gangs befand sich eine Metalltür. Juri zog einen Schlüsselbund aus der Tasche und öffnete das Tor zur Hölle .
Es herrschte Eiseskälte und totale Dunkelheit. Juri suchte nach dem Schalter. Eine staubige Neonröhre verbreitete schließlich ihr fahles Licht in diesem kleinen Raum mit den feuchten, abblätternden Wänden. Ein muffiger Geruch nach Moder und Schimmel hing in der Luft. Die von verrosteten Metallpfeilern gestützte Decke war so niedrig, dass jeder Mensch klaustrophobische Zustände bekommen hätte. Auf der rechten Seite befand sich eine ekelerregende Kloschüssel und ein kleines dreckiges Waschbecken, auf der linken ein Feldbett aus Stahl.
Schonungslos wurde Alice von dem Russen in das Verlies gestoßen. Sie stolperte und fiel der Länge nach auf den feuchten, schwammigen Boden.
Trotz ihrer noch immer gefesselten Hände gelang es ihr, sich aufzurappeln und ihrem Entführer mit letzter Kraft einen wütenden Fußtritt zwischen die Beine zu verpassen.
Er schrie etwas und wich zurück, konnte sich aber auf den Beinen halten, und noch bevor Alice zu einem weiteren Tritt ausholen konnte, stürzte er sich auf sie und stieß ihr das Knie gegen den Rücken, um sie zu Boden zu zwingen, wobei er ihr fast die Schulter ausgekugelt hätte.
Alice glaubte zu ersticken. Benommen vernahm sie ein Klicken – der Russe hatte sie mit Handschellen an eines der Rohre gefesselt.
Als er bemerkte, dass sie an ihrem Knebel zu ersticken drohte, befreite er sie davon. In Tränen aufgelöst, hustete sie heftig, bis sie endlich wieder normal atmen konnte.
Juri fühlte sich stark und überlegen und genoss die Hilflosigkeit seines Opfers.
»Wage noch einmal, mich zu schlagen!«, rief er lachend.
Alice schrie auf. Der Schrei als letzte Waffe. Obwohl sie natürlich wusste, dass an einem verlassenen Ort wie diesem sie niemand hören konnte, wendete sie ihre ganze Energie auf, die Stille der Nacht zu zerreißen.
Juri ergötzte sich an ihrer Verzweiflung. Alles erregte ihn: die Angst des Mädchens, die Enge und Dunkelheit des Raums, das Gefühl der Macht. Doch man
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