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Sensibilität, ihre Hartnäckigkeit bloßgelegt und dabei Stärken und Schwächen entdeckt, die sich zu entsprechen schienen.
Für einige Sekunden waren sie in totaler Eintracht verbunden. Ein Staunen, ein Flash, ein Lebensinstinkt. In Anbetracht der Risiken, die jeder von ihnen eingegangen war, um bis hierher zu gelangen, mussten sie zugeben, dass sie Twin souls waren: Seelenverwandte, die einander erkannt und eine Wegstrecke zurückgelegt hatten, um dasselbe Ziel zu erreichen. Im Moment herrschte zwischen ihnen eine Selbstverständlichkeit und eine gewisse Alchimie. Ein ursprüngliches Gefühl, das auf die Ängste und Hoffnungen der Kindheit zurückging. Die schwindelerregende Gewissheit, endlich der Person gegenüberzustehen, die in der Lage ist, die Leere zu füllen, die Ängste zum Schweigen zu bringen und die Blessuren der Vergangenheit zu heilen.
Madeline kapitulierte und gab sich diesem neuen Gefühl hin. Es war berauschend wie ein Sprung ins Leere ohne Fallschirm, ohne Gummiseil. Sie dachte an ihre erste Begegnung zurück. Nichts wäre passiert ohne diesen Zusammenstoß am Flughafen. Nichts wäre passiert, wenn sie nicht versehentlich ihre Handys vertauscht hätten. Hätte sie dreißig Sekunden früher oder dreißig Sekunden später die Cafeteria betreten, wären sie einander niemals begegnet. Das stand fest. Ein seltsamer Streich des Schicksals, das beschlossen hatte, sie im entscheidenden Moment aufeinandertreffen zu lassen. Der Wink des Engels, wie ihre Großmutter zu sagen pflegte …
Reglos stand Jonathan in der Nacht und ließ sich treiben, beherrscht von einem Gefühl, das die Bindung an die Vergangenheit löste, um die Skizze einer Zukunft zu entwerfen.
Die Magie dauerte weniger als eine Minute an. Plötzlich war der Zauber wieder verflogen. Sein Handy in der Manteltasche klingelte. Es war Raphael, der erneut sein Glück versuchte. Jonathan beschloss, das Gespräch anzunehmen. Er ging ins Restaurant zurück, trat an Madelines Tisch und reichte ihr den Apparat.
»Für Sie.«
Brutal harte Rückkehr in die Realität.
Zwanzig Minuten später
»Jetzt seien Sie doch nicht so kindisch! Sie holen sich noch den Tod in Ihrem Blouson!«
Die Kälte wurde immer beißender. In ihrem dünnen Pullover und der kurzen Lederjacke lief Madeline an der Seite von Jonathan die 14th Street hinunter und weigerte sich hartnäckig, seinen Mantel anzuziehen.
»Morgen, mit vierzig Grad Fieber, werden Sie nicht mehr die Stolze spielen …«
Auf Höhe der 6th Avenue hielt Jonathan in einem Deli an, um Mineralwasser, Kaffee und einen großen Sack mit Holzscheiten zu kaufen.
»Woher wissen Sie, dass es einen Kamin gibt?«
»Stellen Sie sich vor, ich kenne dieses Haus. Ich habe Claire beim Wohnungskauf geholfen und für sie gebürgt.«
»Sie waren sich sehr nahe, nicht wahr?«
»Stimmt, sie war eine sehr gute Freundin. Also ziehen Sie jetzt diesen Mantel an oder nicht?«
»Nein, danke. Aber dies ist wirklich ein aufregendes Viertel«, rief sie begeistert.
In einer Stadt, die sich im ständigen Wandel befand, stellte Greenwich Village eine Art Fixpunkt dar, der sich der Modernisierung entzog. Als Madeline mit Raphael nach Manhattan gekommen war, hatten sie in Midtown den Times Square, die Museen und Boutiquen rund um die 5th Avenue besucht. Hier entdeckte sie ein New York, das von Wolkenkratzern verschont geblieben war. Es war ein Wohnviertel mit niedrigeren eleganten Stadthäusern, den sogenannten Brownstones , mit Backsteinfassaden und Freitreppen wie in den bürgerlichen Gegenden des alten London. Vor allem besaß das Village nicht dasselbe Straßenschachbrettmuster wie das restliche Manhattan, sondern schmale gewundene Straßen, Relikte aus der Zeit, als Greenwich noch ein ländliches Dorf war.
Trotz der Kälte und der späten Stunde herrschte in den Bars und kleinen Restaurants reges Treiben. Auf den Avenues kamen ihnen Jogger mit ihren Hunden entgegen, und unter Laternen sangen Studenten der New Yorker Universität Christmas Carols , um den Beginn der Weihnachtsferien zu feiern.
»Das ist wirklich eine Stadt, die niemals schläft«, stellte Madeline fest.
»Ja, in diesem Punkt lügt die Legende nicht …«
Als sie den Washington Square erreicht hatten, bog Jonathan in eine kleine gepflasterte Straße ein, deren Zugang durch ein Tor geschützt war.
»Die Gebäude an der MacDougal Alley beherbergten früher die Stallungen der Villen rund um den Park«, erklärte
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