Nachrichten aus einem unbekannten Universum
Moby Dick ein weißer Teufel, den es auszulöschen galt. Warum? Weil der knochenweiße Wal es sich nicht gefallen lassen wollte, zu Steak und Lebertran verarbeitet zu werden. Moby fand wohl, wer nach seinem Speck giere, dürfe sich hinterher nicht beschweren, wenn ihm ein Unterschenkel fehle. Ahab sah das anders, mit dem bekannten Resultat. Moby Dick rammte den Walfänger des rachsüchtigen Alten und versenkte das komplette Schiff mit Mann und Maus.
Dem literarischen Drama liegt die wahre Geschichte der Essex zugrunde, eines Walfängers aus Nantucket, der Anfang des 19. Jahrhunderts unliebsame Bekanntschaft mit einem wütenden Pottwal machte. Herman Melville, selber gerne auf Walfängern unterwegs und ein ausgewiesener Kenner der Szene, veröffentlichte seinen Roman 31 Jahre nach der Essex-Katastrophe als episches Mahnmal. In seiner Version der Geschichte überlebt nur Ismael, der Held wider Willen — ironischerweise an den Sarg geklammert, den sein Freund Queequeg sich selbst zugedacht hatte.
Im Falle der Essex verlief die Geschichte weniger theatralisch, dafür insgesamt noch düsterer. Begeben wir uns ins Jahr 1820. Der rund 240 Tonnen schwere Dreimaster hat nach entmutigendem Start und beschwerlicher Umrundung von Kap Hoorn endlich Beute gemacht. Den Laderaum halb gefüllt, zögert Kapitän Pollard, heimzukehren. Zwar steht die Saison der Winterstürme unmittelbar bevor. Doch mit 800 Fässern Waltran — »fettes Glück«, wie die
Seeleute sagen — hat sich die lange, strapaziöse Fahrt nicht wirklich gelohnt. Nach reiflicher Überlegung beschließt er, nahezu unbekannte Breiten anzusteuern, weit draußen auf dem Pazifik. Dort ist gerade Paarungszeit. Pollard hofft, große, noch unangetastete Herden aufzuspüren — und tatsächlich, wenige Wochen vor Wintereinbruch, meldet der Ausguck Pottwale. Unverzüglich lässt der Kapitän drei Ruderboote wassern und der Herde auf die Schwarte rücken. Vor allem einen stattlichen Bullen haben die Männer ins Auge gefasst, ein gewaltiges Tier, wie der überlebende Erste Offizier der Essex, Owen Chase, später berichten wird.
Anfangs lässt sich die Sache viel versprechend an. Die Herde ist riesig. Dann aber nimmt der Bulle eines der Boote aufs Korn, sodass es kentert. Im Allgemeinen versuchen die Wale zu entkommen, wenn man sie jagt, mitunter jedoch zertrümmern sie die Boote der Harpuniere, was Menschenleben kosten kann, indes zum Alltag gehört. Harpunier und Ruderer haben Glück im Unglück. Niemand wird verletzt, allerdings gerät die Jagd ins Stocken. Eilig versucht man das demolierte Boot zu flicken — und nun geschieht etwas ganz und gar Verblüffendes. Weder flieht der Bulle noch greift er die anderen Boote an. Stattdessen hält er direkt auf die Essex zu. Der Schiffsjunge sieht den Wal als Erster kommen, schreit wie am Spieß. Chase gibt Order, dem Bullen auszuweichen, alles verfällt in fieberhafte Hast — zu spät!
»Das Schiff bäumte sich plötzlich wie wild auf, als wäre es auf einen Felsen gelaufen«, wird sich der Erste Offizier später erinnern.
»Wir waren alle völlig sprachlos vor Überraschung.«
Fast 180 Jahre nach dem Vorfall können Cetologen nicht mit Gewissheit sagen, was sich im Quadratschädel des Wals abspielte. Ebenso herrscht keine Einigkeit darüber, ob er zum Zeitpunkt des Angriffs leicht, schwer oder überhaupt verletzt war. Tatsache ist: Er rammte die Essex mit solcher Wucht, dass sie bis in die Masten erzitterte und bedenklich in Schieflage geriet. Hatte der Wal begriffen, dass er mit der Zerstörung der schwimmenden Basis das ganze Unterfangen zum Scheitern bringen würde? Reichten seine kognitiven Gaben, um in der Essex die Ursache allen Übels zu erkennen? Oder war der erste Zusammenstoß nur ein Versehen? Bei aller Wut dürfte der Bulle vor allem panische Angst gehabt haben, zu der sich nach dem Aufprall böse Kopfschmerzen gesellten.
Wie paralysiert dümpelt er neben dem Walfänger dahin, sodass Owen Chase kurz darüber nachsinnt, ihm mit der Harpune den Rest zu geben. Doch was, wenn die Folge ein neuerlicher Angriff wäre? Er müsste schon sehr genau treffen, um einen Todeskampf auszuschließen. Eine wild peitschende Fluke wäre das Letzte, was sie jetzt gebrauchen könnten. Die Essex würde noch mehr in Mitleidenschaft gezogen.
Chase ist unschlüssig. Also wartet er — und wartet zu lange.
Der Wal taucht ab, verschwindet. Fast fühlt der Erste Offizier so etwas wie Enttäuschung, zugleich macht sich unter der
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