Nachrichten aus einem unbekannten Universum
Eiweiße und Zucker umgewandelt, und was nicht zur Verwertung gelangt, wird ausgeschieden. Die Evolution hat somit auch den Stuhlgang erfunden als Resultat einer gesunden Verdauung.
Mutig machen sich einige der neuen Supermoleküle daran, ihre Bläschen zu verlassen und auf Wanderschaft zu gehen. Vielen der Ausreißer bekommt die Flucht nicht gut, sie werden ins offene Meer gespült, doch einige besetzen winzige Poren in den Wänden der Kamine. Diese Protozellen, wie wir sie nennen wollen, beginnen sich zu vermehren. Je nachdem, wohin es sie gerade treibt, sind die Bedingungen besser oder schlechter, ist es wärmer, kühler oder alkalischer. Egal. Was hat uns Miss Evolution gepredigt? Opportunisten leben länger. Also passt man sich an, und die Variantenvielfalt im Protoleben nimmt rapide zu.
Besuchen wir einen dieser Kamine, einen 56 Meter hohen Koloss, aus dem wirbelnde schwarze Wolken quellen. Eine regelrechte Protozellen-Population ist in den Außenwänden herangewachsen, ein Shanghai des Hadaikums, der Erdurzeit. Neue Kohlenstoffverbindungen entstehen, RNS mutiert, Geschichte wird geschrieben in basischen Lettern. Soeben, im 76.452sten Bläschen von links, schicken sich zwei Kettenmoleküle an, etwas Gewaltiges zu vollbringen. Sie umkreisen einander, als seien sie unentschlossen, das Wagnis der Verbindung einzugehen, aber würde es die Entwicklung des Lebens nicht ungemein beschleunigen? Warum eigentlich nicht, wer nicht wagt, der nicht gewinnt; also los. Mal sehen, was dabei ...
Krrrk! — ein Zittern geht durch den Kamin. Dunkles Grollen klingt auf. Die Schlotwände zeigen Risse, das komplette Magmaplateau mit seiner Landschaft aus Kaminen bebt. Die Erdstöße werden stärker. Stücke lösen sich aus der Krone des Kamins und sinken herab, zerplatzen am Sockel und zerstören in wenigen Sekunden ganze Viertel der Bläschenstadt. Längs in der Schlotwand klafft plötzlich ein meterlanger Spalt. Dann bäumt sich die Umgebung unvermittelt auf. Es ist der Todesstoß für Klein-Shanghai. Der Kamin beginnt auseinander zu brechen, zerbirst unter dem Druck einer gewaltigen Gasblase, die das Beben freigesetzt hat. Größere Trümmer regnen herab und zerschlagen die Basis, die ganze Pracht kollabiert und endet wie der Turm zu Babel. Als die Erdstöße nachgelassen haben, ist von der viel versprechenden Schlotmetropole nur noch ein Ruinenfeld zu sehen. Alle Bläschen sind zerstört, ihre Bewohner in die Strömung gewirbelt worden. Ihrer schützenden Außenhülle beraubt, diffundieren die Bestandteile der Protozelle im Urozean, auch die jener Zelle, die eben noch Schauplatz bahnbrechender Neuerungen war. Nie werden wir erfahren, was aus dem Zusammenschluss der beiden Kettenmoleküle geworden wäre. Die Eisensulfidhüllen fungierten nicht nur als Katalysatoren ihrer Entwicklung, sie bildeten zugleich die Körper protolebendiger Wesen, deren Innereien sich für alle Zeit im Meerwasser verloren haben. In diesem Teil des Ozeans hat die Natur über das Leben gesiegt.
Kein Grund zur Besorgnis. Derartige Desaster waren an der Tagesordnung. Allerdings stellten sie Miss Evolution vor sisyphale Probleme. Wie jede resolute Dame, die es gern ordentlich hat, bereitete ihr die Aussicht, ständig neu anfangen zu müssen, äußerstes Unbehagen. Solange die Protozellen in ihren Eisensulfidhüllen gefangen waren, standen nennenswerte Fortschritte in der Lebensentwicklung nicht zu erwarten. Früher oder später versiegte die Wärmezufuhr in jedem Schlot, oder er fiel der Seismik zum Opfer. Heute können wir Städte evakuieren, wenn sich die Katastrophe frühzeitig ankündigt. Protozellen sah man nie geordnet ihre Stadt verlassen. Keiner konnte seine vier Basen zusammenpacken und ins Hinterland ziehen. Nicht mal gemächlich davontrudeln konnte so eine Zelle, wenn der Boden zu wackeln begann, sie war ja untrennbar mit ihrer Stadt verwachsen.
In dieser verzweifelten Lage entsann sich Miss Evolution ihrer Handtasche.
Die Handtasche, muss man sagen, gehört zu den ganz großen Errungenschaften unserer Zivilisation. Ich bin geneigt, sie in höchstem Maße als Instrument des Fortschritts anzusehen; ohne Zweifel dokumentiert sie die Überlegenheit des weiblichen Geschlechts — wer je den Inhalt einer Handtasche näheren Analysen unterworfen hat, wird mir uneingeschränkt beipflichten. Frauen bewahren dort den wesentlichen Teil ihres Selbst auf, sozusagen ihren Persönlichkeitscode. Haben wir Männer nicht allezeit gestaunt, warum uns der
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