Nachrichten aus einem unbekannten Universum
echten Schlangen (sind also nicht schlangenartig wie beispielsweise Aale) und leben ausschließlich im Meer. Bis zu zwei Stunden können sie in teils beträchtlicher Tiefe zubringen, bevor es sie zur Oberfläche zieht, um Luft zu schnappen. Vielfach ist ihr Schwanz abgeplattet, was das Schwimmen erleichtert. Es gibt höchst dekorative Vertreter unter den wahren Seeschlangen, hübsch geringelt und leider hochgiftig, weshalb man sie aus sicherer Distanz betrachten sollte. Längst nicht alle Seeschlangen sind gefährlich, nur verhält es sich mit ihnen so wie mit den Pilzen im Walde — kann man sie nicht im Schlaf auseinander halten, empfiehlt es sich, die Finger von ihnen zu lassen.
Da sind wir ja schon mal fündig geworden. Allerdings dürften die echten Seeschlangen kaum für all die Schreckensberichte verantwortlich sein. Macht aber nichts. Wir haben was viel Besseres: Regalecus gksne, den Riemenfisch!
Dieses Tiefseewesen, das es bisweilen an die Oberfläche verschlägt, wird bis zu elf Meter lang, trägt einen mähnenartigen Kamm und ähnelt in der Physiognomie tatsächlich einem Pferd. Riemenfische sind äußerst selten, kommen aber in sämtlichen Meeresgegenden vor, was zu den dokumentierten Sichtungen passen würde. Nur eine Kleinigkeit stört das Bild: Die meisten Berichte über Seeschlangen beschreiben diese mit weit aus dem Wasser herausschauenden Kopf, was den Riemenfisch in Atemnöte bringen dürfte. Also bleibt er mit dem Kopf unter Wasser. Aber was sieht man nicht alles, wenn man es nur sehen will.
Gerne erzählen Seeleute auch von Meerjungfrauen. Dass man nach Monaten auf See an Hirnversalzung leidet, verbunden mit hormonellen Störungen, mag Ursprung vieler Legenden sein. Arielle, die Meerjungfrau, findet sich jedenfalls in keiner seriösen Publikation, Biologen streiten die Existenzfähigkeit von Frauen mit Fischschwänzen rundheraus ab, und die einzige echte Nixe sitzt reglos auf einem Stein im Kopenhagener Hafen. Um das Rätsel der kecken Wasserweibchen, die liebestrunkene Matrosen auf den Meeresgrund ziehen, zu lösen, müssen wir uns in die Antike begeben, zu den Sirenen.
Diese waren nur vom Hals an Frau und untenrum Vogel, auch nicht gerade eine Verbesserung, wenn man gerne Pumps und enge Röcke trägt. Damit glichen sie entfernt den Harpyien, konnten allerdings bei weitem schöner singen als diese. So berückend war ihr Gesang, dass Männer dafür alles stehen und liegen ließen. Fischer, die am Heimatfelsen der Sirenen vorbeischipperten, pflegten sich verliebt ins Wasser zu stürzen, wobei sie entweder ertranken oder gefressen wurden. Ein ähnlich gemeines Weib soll auf dem rheinischen Loreleyfelsen gesessen haben, ohne Vogelfüße allerdings. Jedenfalls ließen schon die Namen der Sirenen auf ihre besondere Begabung schließen: Thelxiope etwa heißt übersetzt »Zauberrede«, Aglaopheme steht für »Süße Rede« und Molpe für »Das Lied«. Im Chor ließen sie ihren Gesang erschallen, auch als ein Herr namens Odysseus in die Gegend geriet. Den hatte die kluge und schöne Circe beizeiten gewarnt, wie wir der Übersetzung des Epos durch Johann Heinrich Voß entnehmen können:
Erstlich erreichet dein Schiff die Sirenen;
Diese bezaubern alle sterblichen Menschen,
Wer ihre Wohnung berühret.
Welcher mit törichtem Herzen hinanfährt,
Und der Sirenen Stimme lauscht,
Dem wird zu Hause nimmer die Gattin
Und unmündige Kinder mit freudigem Gruße begegnen;
Denn es bezaubert ihn der helle Gesang der Sirenen,
Die auf der Wiese sitzen, von aufgehäuftem Gebeine
Modernder Menschen umringt und ausgetrockneten Häuten.
Pfui Spinne! Nun war der Fürst der Listen, wie man weiß, alles andere als dumm, jedoch enorm neugierig. Also versiegelte er die Gehörgänge seiner Gefährten mit Wachs. Selbst aber verlangte ihn danach, dem Gesang der Sirenen zu lauschen, und weil er wusste, wie so was ausgehen würde, ließ er sich an den Mast fesseln. Damit ist er der einzige Mann, der den Verführungskünsten der hässlichen Krähen je widerstand — abgesehen von Orpheus, der sie mit seiner Leier schlicht übertönte.
Übers Meer schallt der Gesang. Und was, wenn kein Land und kein einsamer Felsen in der Nähe sind?
Schnell erfuhr der Sirenenmythos seine Transformation. Nun waren es plötzlich keine Vogelweiber mehr, sondern Fischfrauen, die immer wieder gesichtet wurden. Den einen galten sie als Zeichen der Hoffnung, anderen als Geister und Dämonen. 1882 zog ein Schausteller mit einer
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