Nachrichten aus Mittelerde
Westland besuchen wollte. Ancalime erhielt ihren gesamten Unterricht von ihrer Mutter; und sie lernte leicht schreiben und lesen und sich in der Elbensprache mit ihrer Mutter zu unterhalten, nach der Weise, in derhochgestellte Personen in Númenor sie sprachen. Denn in den Westlanden war das Elbische in Häusern wie dem Beregars Umgangssprache, und Erendis benutzte die Sprache Númenors selten, die Aldarion umso mehr liebte. Ancalime lernte auch vieles über Númenor und die alten Tage aus Büchern und Schriftrollen, die sich im Haus befanden und die sie verstehen konnte; und auch Wissen anderer Art, vom Volk und dem Land, schnappte sie zuweilen von den Frauen des Haushaltes auf, obgleich Erendis davon nichts wusste. Doch die Frauen waren aus Furcht vor ihrer Herrin vorsichtig, wenn sie mit dem Kind sprachen; und für Ancalime gab es in dem weißen Haus in Emerië wenig Gelegenheit zum Lachen. Es war grabesstill, ohne Musik, als ob im Haus vor nicht langer Zeit jemand gestorben sei; es fiel nämlich in jenen Tagen in Númenor den Männern zu, auf Instrumenten zu spielen, und die Musik, die Ancalime in ihrer Kindheit hörte, war der Gesang der Frauen draußen bei der Arbeit, außer Hörweite der Weißen Herrin von Emerië. Doch nun war Ancalime sieben Jahre alt, und so oft sie die Erlaubnis erhielt, verließ sie das Haus und erging sich in der weiten Hügellandschaft, wo sie frei umherlaufen konnte. Manchmal schloss sie sich einer Schäferin an, hütete die Schafe und verzehrte ihre Mahlzeit unter freiem Himmel.
An einem Tag im Sommer dieses Jahres kam ein Knabe, älter als Ancalime, mit einer Nachricht von einem der entfernten Bauernhöfe zum Haus. Ancalime kam hinzu, wie er an der Rückseite des Bauernhauses im Hof saß, Brot aß und Milch trank. Er blickte sie ohne Ehrerbietung an und trank weiter. Dann stellte er seinen Becher hin.
»Starr mich an, wenn du musst, Großauge!«, sagte er. »Du bist ein hübsches Mädchen, aber zu mager. Willst du essen?« Er zog einen Brotlaib aus seinem Beutel.
»Troll dich, Îbal!« rief eine alte Frau, aus der Tür der Molkereitretend. »Und nimm deine langen Beine in die Hand, oder du wirst die Botschaft vergessen, die ich dir für deine Mutter aufgetragen habe, bevor du heimkommst!«
»Wo du bist, braucht man keinen Wachhund, Mutter Zamîn!«, schrie er, und mit einem Gebell und einem Schrei setzte er über das Tor und rannte den Hügel hinunter. Zamîn war eine alte Landfrau mit kecker Zunge und nicht leicht einzuschüchtern, selbst von der Weißen Herrin nicht.
»Was war das für ein lautes Wesen?«, fragte Ancalime.
»Ein Junge«, sagte Zamîn, »wenn du weißt, was das ist. Aber wie solltest du? Sie sind meistens frech und verfressen. Dieser hier ist immer beim Essen – doch nicht ohne Grund. Sein Vater wird einen sauberen Burschen vorfinden, wenn er zurückkommt. Aber wenn er nicht bald kommt, wird er ihn kaum wiedererkennen. Ich könnte das auch von anderen sagen.«
»Hat der Junge auch einen Vater?«, fragte Ancalime.
»Gewiss«, erwiderte Zamîn. »Es ist Ulbar, einer der Schäfer des mächtigen Herrn im Süden. Wir nennen ihn den Fürsten der Schafe, und er ist ein Verwandter des Königs.«
»Warum ist denn der Vater des Jungen nicht daheim?«, wollte Ancalime wissen.
»Warum,
hérinke
,«, sagte Zamîn, »weil er von diesen Wagemutigen gehört hat und mit ihnen losgezogen ist, fortgesegelt mit deinem Vater, dem Fürsten Aldarion. Nur die Valar wissen, wohin und wozu.« An diesem Abend sagte Ancalime plötzlich zu ihrer Mutter: »Wird mein Vater auch der Fürst Aldarion genannt?«
»Er wurde so genannt«, sagte Erendis. »Doch warum fragst du?« Ihre Stimme war ruhig und kühl, aber sie war verwundert und besorgt, denn niemals zuvor war zwischen ihnen ein Wort über Aldarion gewechselt worden.
Ancalime beantwortete die Frage nicht. »Wann wird er zurückkommen?«, fragte sie.
»Frage mich nicht!«, erwiderte Erendis. »Ich weiß es nicht. Vielleicht niemals. Aber mache dir deshalb keine Sorgen, denn du hast eine Mutter, und diese wird nicht fortlaufen, solange du sie lieb hast.«
Ancalime sprach nicht wieder von ihrem Vater.
Die Tage vergingen, ein neues Jahr brach an, und dann ein weiteres, und in diesem Frühling war Ancalime neun Jahre alt. Lämmer wurden geboren und wuchsen heran, die Zeit der Schur kam und ging vorüber, ein heißer Sommer verbrannte das Gras, der Herbst ging in Regen über. Dann kam aus dem Osten von einem wolkentreibenden
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