Nachrichten aus Mittelerde
Zwielicht stand.
Den ganzen Tag verbrachte Erendis allein in ihrem Gemach, von Kummer erfüllt. Doch tief in ihrem Herzen spürte sie einen neuen Schmerz: kalten Zorn, und ihre Liebe zu Aldarion war aufs tiefste verwundet. Sie hasste das Meer, und selbst auf die Bäume, die sie einmal geliebt hatte, wollte sie nun keinen Blick werfen, denn sie erinnerten sie an die Masten großer Schiffe. Darum verließ sie Armenelos bald und begab sich nach Emerië in der Mitte der Insel, wo immer, von nah oder fern, das Blöken der Schafe vom Wind herbeigetragen wurde. »Es klingt süßer in meinen Ohren als das Kreischen der Möwen«, sagte sie, als sie an der Tür ihres weißen Hauses stand, dem Geschenk des Königs. Das Haus stand am Westhang eines Hügels, und von allen Seiten umgaben es ausgedehnte Rasenflächen, die ohne Mauer oder Hecke in das Weideland übergingen. Dorthin nahm sie Ancalime mit, und die beiden hattennur sich selbst zur Gesellschaft. Erendis wollte nämlich in ihrem Haushalt nur Dienstboten haben, und diese waren alle Frauen. Sie suchte immer, ihre Tochter nach ihren eigenen Vorstellungen zu erziehen und ihre eigene Bitterkeit gegen Männer auch in Ancalime zu nähren. In der Tat sah Ancalime Männer selten, denn Erendis hielt nicht Hof, und ihre wenigen Landarbeiter und Schäfer wohnten in einiger Entfernung. Andere Männer kamen nicht dorthin, ausgenommen ein seltener Bote des Königs; und dieser ritt rasch wieder fort, denn Männer schien dieses Haus frösteln zu machen und sie zur Flucht zu treiben, und solange sie dort waren, fühlten sie sich gezwungen, in halbem Flüsterton zu sprechen.
Eines Morgens, kurz nachdem Erendis nach Emerië gekommen war, weckte sie Vogelgesang, und auf ihrem Fenstersims saßen die Elbenvögel, die lange in ihrem Garten in Armenelos gewohnt hatten, die sie aber aus Vergesslichkeit zurückgelassen hatte. »Süße Närrchen, fliegt fort!«, sagte sie. »Hier ist kein Ort für Frohsinn wie den euren.«
Da verstummte der Gesang, und die Vögel flogen hinauf über die Bäume. Dreimal kreisten sie über den Dächern, und dann flogen sie nach Westen davon. An diesem Abend ließen sie sich auf dem Fenstersims des Zimmers im Hause ihres Vaters nieder, in dem Erendis mit Aldarion auf dem Rückweg vom Fest in Andúnië geruht hatte; und dort fanden sie Beregar und Núneth am nächsten Morgen. Jedoch als Núneth die Hand nach ihnen ausstreckte, flogen sie steil in die Höhe und flogen davon. Sie folgte ihnen mit den Augen, bis sie nur noch Punkte im Sonnenlicht waren, die dem Meer entgegeneilten, zurück in das Land, aus dem sie gekommen waren.
»Dann ist er also wieder fortgegangen und hat sie zurückgelassen«, sagte Núneth.
»Warum hat sie uns nicht benachrichtigt?«, fragte Beregar. »Oder warum ist sie nicht nach Hause gekommen?«
»Ist diese Nachricht nicht deutlich genug?«, fragte Núneth. »Denn sie hat die Elbenvögel fliegen lassen, und das war eine schlimme Tat. Das bedeutet nichts Gutes. Warum, warum meine Tochter? Weißt du mit Gewissheit, was auf dich zukommt? Doch lasse sie allein, Beregar, wo immer sie sein mag. Dies ist ihre Heimat nicht mehr, und hier wird sie nicht geheilt werden. Er wird zurückkommen. Und dann mögen die Valar ihr Klugheit schenken – oder zumindest List!«
Als das zweite Jahr nach Aldarions Abreise heranrückte, gab Erendis auf Wunsch des Königs Anweisung, das Haus in Armenelos in Ordnung zu bringen und bereit zu machen; sie selbst jedoch traf keine Vorkehrungen für die Rückkehr Aldarions. Dem König sandte sie eine Nachricht, welche lautete: »Ich werde kommen, wenn du es mir befiehlst,
atar aranya
. Aber habe ich jetzt die Pflicht, mich zu beeilen? Ist nicht noch Zeit genug, wenn sein Segel im Osten auftaucht?« Und zu sich selbst sagte sie: »Will der König mich auf den Kais warten lassen wie das Liebchen eines Matrosen? Ich wollte, ich wäre es, doch ich bin es nicht mehr. Ich habe diese Rolle bis zum Überdruss gespielt.«
Doch dieses Jahr verging, und kein Segel wurde gesichtet; und das nächste Jahr kam und neigte sich gegen den Herbst. Darauf wurde Erendis hart und schweigsam. Sie befahl, das Haus in Armenelos zu verschließen, und von ihrem Haus in Emerië aus unternahm sie niemals mehr Reisen, die länger als ein paar Stunden dauerten. Die Liebe, die in ihr war, schenkte sie ihrer Tochter, sie klammerte sich an sie und wollte sie nicht von ihrer Seite lassen, nicht einmal dann, wenn Ancalime Núneth oder ihre Sippe im
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