Nachrichten aus Mittelerde
die Augen, deutete auf seine Fesseln, und als er von ihnen befreit war, sagte er: »Merkt euch, ihr Narren! Legt einem Zwerg keine Fesseln an! Er wird es nicht verzeihen. Ich wünsche mir den Tod nicht, aber mein Herz ist voll Zorn über das, was ihr mir angetan habt. Ich bereue mein Versprechen.«
»Aber ich nicht«, sagte Túrin. »Du wirst mich zu deiner Wohnung führen. Bis wir dort sind, wollen wir nicht vom Tod sprechen. Dies ist
mein
Wille.« Er blickte dem Zwerg unverwandt in die Augen, und dieser konnte den Blick nicht ertragen. In der Tat konnten nur wenige der gesammelten Willenskraft oder dem Zorn in Túrins Augen standhalten; nach kurzer Zeit wandte Mîm seinen Kopf zur Seite und erhob sich. »Folgt mir, Herr!«, sagte er.
»Gut!«, sagte Túrin. »Doch ich will jetzt noch eines hinzufügen: Ich verstehe deinen Stolz. Vielleicht musst du sterben, aber du sollst nicht wieder gefesselt werden.«
Darauf führte sie Mîm zu dem Platz zurück, an dem er gefangen genommen worden war, und er deutete nach Westen. »Dort liegt meine Heimat!«, sagte er. »Ihr habt sie oft gesehen, schätze ich, denn sie ist groß genug. Wir nannten sie Scharbhund, bevor die Elben alle Namen änderten.« Da sahen sie, dass er auf den Amon Rûdh deutete, den Kahlen Berg, dessen nackte Kuppe sich über der meilenweiten Wildnis erhob.
»Wir haben ihn gesehen«, sagte Andróg, »doch niemals aus der Nähe. Wie kann es dort einen sicheren Unterschlupf geben oder Wasser und all die anderen Dinge, die wir brauchen? Ich dachte es mir, dass Betrug im Spiel sei. Wie sollen sich Männer auf der Kuppe eines Hügels verstecken?«
»Ein weiter Ausblick kann sicherer sein, als umherzuschleichen«, sagte Túrin. »Amon Rûdh liegt in weiter Ferne. Wohlan, Mîm, ich werde kommen und sehen, was du uns zu zeigen hast. Wie lange werden wir Stolper-Menschen brauchen, um dorthin zu gelangen?«
»Den ganzen Tag bis zur Abenddämmerung«, erwiderte Mîm.
Der Trupp setzte sich in westlicher Richtung in Bewegung, und Túrin ging an der Spitze, Mîm an seiner Seite. Als sie die Wälder verließen, bewegten sie sich vorsichtig, doch das Land ringsum war leer und ruhig. Sie stiegen über die herumliegenden Steine und begannen den Aufstieg, denn Amon Rûdh lag am östlichen Rand der Hochmoore, die sich zwischen den Tälern von Sirion und Narog erhoben, und sein Gipfel ragte mehr als tausend Fuß über dem steinigen Heideland zu seinen Füßen empor. An seiner östlichen Flanke stieg der zerklüftete Boden zwischen Gruppen von felsenverwurzelten Birken, Ebereschen und uralten Dornenbäumen allmählich zu den hohen Kämmen hinauf. Auf den niedrigen Hängen des Amon Rûdh wuchsenDickichte von
aeglos
; doch seine steile graue Kuppe war bis auf das rote
seregon
, 14 das den Stein überzog, kahl.
Als der Nachmittag zu Ende ging, kamen die Geächteten dicht an den Fuß des Berges heran. Sie näherten sich ihm von Norden her, denn so hatte Mîm sie geführt, und das Licht der sinkenden Sonne fiel auf den Berggipfel, wo das
seregon
in voller Blüte stand.
»Seht! Es ist Blut auf dem Gipfel«, sagte Andróg.
»Noch nicht«, gab Túrin zur Antwort.
Die Sonne sank, und das Licht in den Mulden wurde schwächer. Der Berg ragte nun vor und über ihnen auf, und sie fragten sich, welchen Nutzen ein Führer bei einem so unübersehbaren Ziel haben konnte. Aber als Mîm sie weiterführte und sie die letzten steilen Hänge zu erklettern begannen, begriffen sie, dass er, alter Gewohnheit oder geheimen Markierungen folgend, einen bestimmten Pfad benutzte. Dieser wand sich jetzt hin und her, und wenn sie zur Seite blickten, sahen sie, dass sich zu beiden Seiten dunkle Täler und Grate auftaten oder der Hang in Wüsten großer Steine auslief, die mit Abstürzen und Gruben durchsetzt waren, die unter Brombeerranken und Dorngestrüpp verborgen waren. Hier hätten sie sich ohne einen Führer tagelang abmühen und umherklettern müssen, um überhaupt einen Weg zu finden.
Schließlich stieg der Untergrund steiler an, wurde aber glatter. Sie tauchten in die Schatten uralter Ebereschen und traten in die Schneisen langbeiniger
aeglos
wie in eine mit süßem Duft geschwängerte Düsternis. 15 Plötzlich stand eine Felswand vor ihnen, glatt und kerzengerade, die hoch in die Dämmerung über ihnen hinaufragte.
»Ist dies die Tür zu deinem Haus?«, fragte Túrin. »Zwerge lieben Stein, sagt man«, sagte er und trat dicht an Mîm heran, damit dieser ihnen nicht noch zu guter
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