Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachrichten aus Mittelerde

Nachrichten aus Mittelerde

Titel: Nachrichten aus Mittelerde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher J. R. R.; Tolkien Tolkien
Vom Netzwerk:
zurück, und sie marschierte folgsam, an der Hand geführt, Stunde um Stunde. Doch ihre weit offenen Augen nahmen nichts wahr, ihre Ohren hörten keine Worte, und über ihre Lippen kam kein Wort.
    Und dann kamen sie nach vielen Tagen endlich in die Nähe der Westgrenze Doriaths, ein wenig südlich des Teiglin. Sie hatten nämlich vor, die Zäune von Thingols kleinem Land jenseitsdes Sirion zu passieren und so die bewachte Brücke nahe der Einmündung des Esgalduin zu erreichen. Dort machten sie eine Weile halt. Sie betteten Nienor auf ein Lager aus Gras, und sie schloss die Augen, wie sie es bisher noch nicht getan hatte, und schien zu schlafen. Dann ruhten auch die Elben, und wegen ihrer völligen Erschöpfung waren sie unachtsam. So wurden sie unerwartet von einer Bande jagender Orks überfallen, die nun in dieser Gegend umherstreiften und sich nahe an die Zäune Doriaths heranwagten. Mitten im Kampfgetümmel sprang Nienor plötzlich von ihrem Lager auf wie jemand, der durch einen nächtlichen Lärm aus dem Schlaf gerissen wird; und mit einem Schrei stob sie fort in den Wald. Darauf drehten sich die Orks um und verfolgten sie, und die Elben jagten sie ihrerseits. Aber mit Nienor ging eine seltsame Veränderung vor: Jetzt lief sie allen davon, flog wie ein Reh zwischen den Bäumen dahin, so schnell, dass ihr Haar im Luftzug wehte. Mablung und seine Gefährten holten die Orks rasch ein, erschlugen sie alle und rannten weiter. Doch inzwischen war Nienor wie ein Gespenst verschwunden, und obgleich sie viele Tage suchten, bekamen sie sie weder zu Gesicht noch fanden sie eine Spur von ihr.
    Da kehrte Mablung schließlich nach Doriath zurück und verbeugte sich vor Thingol, Kummer und Scham im Herzen. »Sucht Euch einen neuen Anführer für Eure Jäger, Herr«, sagte er zum König, »denn ich bin entehrt.«
    Doch Melian sagte: »Das stimmt nicht, Mablung. Du hast alles getan, was du konntest, und keiner unter den Dienern des Königs hätte so viel getan. Aber durch ein böses Geschick musstest du dich mit einer Macht messen, die zu groß für dich war: zu groß, wahrlich, für alle, die jetzt in Mittelerde wohnen.«
    »Ich habe dich ausgeschickt, um Nachrichten einzuholen, und das hast du getan«, sagte Thingol. »Es ist nicht deineSchuld, wenn jene, die von ihnen am meisten berührt werden, sie jetzt nicht mehr hören können. Wahrlich, bitter ist dieses Ende von Húrins Sippe, aber dir kann man es nicht zur Last legen.«
    Nunmehr war nicht nur Nienor wie von Sinnen in die Wildnis gerannt, sondern auch Morwen war verschwunden. Weder zu dieser Zeit noch später kam irgendeine verlässliche Nachricht von ihrem Schicksal nach Doriath oder Dor-lómin. Dennoch gab Mablung keine Ruhe, und er brach mit einem kleinen Trupp in die Wildnis auf. Und drei Jahre lang wanderten sie weit umher, von den Ered Wethrin bis gar zu den Mündungen des Sirion, und suchten nach Zeichen oder Nachrichten von den Verschwundenen.

Nienor in Brethil
    Was aber Nienor betraf, so rannte sie weiter in den Wald hinein und hörte hinter sich die Rufe der Verfolger. Sie riss sich die Kleider herunter, warf sie während der Flucht fort, bis sie ganz nackt war. Und sie lief noch den ganzen Tag wie ein Tier, das gejagt wird, bis ihm das Herz versagt, und das nicht wagt, innezuhalten und Atem zu schöpfen. Aber gegen Abend verging plötzlich ihre Tollheit. Einen Augenblick blieb sie wie verwundert stehen, und dann fiel sie aufs äußerste erschöpft, wie vom Schlag getroffen, ohnmächtig in ein Farndickicht. Und dort, zwischen den vorjährigen Farnwedeln und den frischen Trieben des Frühjahrs, lag sie, ohne sich um ihre Umwelt zu kümmern.
    Am Morgen erwachte sie und begrüßte das Licht wie jemand, der zum ersten Mal ins Leben gerufen wird; alle Dinge, die sie sah, erschienen neu und fremd, und sie hatte keine Namen für sie. Denn hinter ihr lag eine leere Finsternis, und keine Erinnerung durchdrang sie an etwas, das sie gekannthatte, und nicht das Echo eines einzigen Wortes. Sie erinnerte sich nur an einen Schatten von Furcht, und darum war sie auf der Hut und hielt immer nach Verstecken Ausschau: Wenn irgendein Geräusch oder Schatten sie erschreckte, kletterte sie auf einen Baum oder schlüpfte ins Dickicht, hurtig wie ein Eichhörnchen oder ein Fuchs; und von dort spähte sie lange Zeit durch die Blätter, ehe sie ihren Weg fortsetzte.
    Indem sie so den Weg verfolgte, den sie zuerst eingeschlagen hatte, kam sie zum Teiglin, wo sie ihren Durst stillte.

Weitere Kostenlose Bücher