Nachrichten aus Mittelerde
wachten Tag und Nacht bei ihr. Doch nur wenn Turambar in der Nähe blieb, ruhte sie friedlich oder schlief ohne zu stöhnen ein. Eines aber bemerkten alle, die bei ihr wachten: Während der ganzen Zeit, da sie im Fieber lag und oft arge Qualen litt, murmelte sie niemals ein Wort, weder in der Sprache der Elben noch der Menschen. Und als ihre Gesundheit allmählich zurückkehrte, sie aufstehen konnte und wieder zu essen anfing, da mussten die Frauen von Brethil Níniel wie ein Kind Wort für Wort das Sprechen lehren. Doch sie lernte schnell und hatte Freude daran, wie jemand, der große und kleine Schätze wiederfindet, die er verlegt hatte. Als sie endlich genug gelernt hatte, um sich mit ihren Freunden zu verständigen, sagte sie: »Wie heißt dieser Gegenstand? In meiner Dunkelheit habe ich seinen Namen nämlich vergessen.« Als sie wiederumhergehen konnte, suchte Níniel Brandir in seinem Haus auf, denn sie war sehr begierig, die Namen aller Lebewesen kennenzulernen, und in diesen Dingen kannte er sich gut aus; und sie gingen zusammen im Garten und auf den Waldlichtungen spazieren.
Da begann Brandir sie lieb zu gewinnen; und als sie zu Kräften kam, stützte sie ihn, den Lahmen, und nannte ihn ihren Bruder. Ihr Herz aber hatte sie an Turambar verloren, und nur wenn er nahte, lächelte sie, und nur wenn er scherzte, lachte sie.
An einem goldumrandeten Herbstabend saßen sie beisammen, die Sonne ließ den Berghang und die Häuser Ephel Brandirs aufglühen, und eine tiefe Stille herrschte. Da sagte Níniel zu Turambar: »Ich habe nun nach dem Namen aller Lebewesen gefragt, nur nach dem deinen nicht. Wie nennt man dich?«
»Turambar«, antwortete er.
Da hielt sie inne, als lausche sie auf ein Echo; doch sie sagte: »Und was bedeutet das, oder ist es nichts weiter als ein Name?«
»Es bedeutet Meister des Dunklen Schattens«, sagte er. »Denn auch ich, Níniel, hatte meine Dunkelheit, in der manches verschwunden ist, das mir lieb war. Aber jetzt habe ich es überwunden, denke ich.«
»Und bist du auch davor geflohen und gerannt, bis du in diese lieblichen Wälder kamst?«, fragte sie. »Und wann bist du entkommen, Turambar?«
»Ja«, sagte er. »Ich bin viele Jahre lang geflohen. Und ich entrann, als du kamst. Denn es war dunkel, bevor du kamst, Níniel, aber seitdem ist es immer hell gewesen. Und es scheint mir, dass endlich zu mir gekommen ist, was ich so lange vergeblich gesucht habe.«
Als er in der Abenddämmerung zu seinem Haus zurückging, sagte er zu sich selbst: »Haudh-en-Elleth! Sie kam von der grünen Anhöhe. Wenn dies ein Zeichen ist – wie soll ich es deuten?«
Nun neigte sich das goldene Jahr, ging in einen milden Winter über, dem ein weiteres strahlendes Jahr folgte. In Brethil war Frieden, die Waldmenschen selbst verhielten sich ruhig, verließen ihre Gegend nicht und empfingen keine Nachrichten aus den Ländern ringsum. Denn die Orks, die zu dieser Zeit nach dem Süden in Glaurungs dunkles Reich kamen oder als Späher an die Grenzen Doriaths gesandt wurden, mieden die Teiglin-Stege und hielten sich weit im Westen jenseits des Flusses auf.
Und nunmehr war Níniel gänzlich geheilt, und sie war blühend und kräftig geworden, und Turambar hielt sich nicht länger zurück und bat sie, seine Frau zu werden. Níniel war darüber froh, als aber Brandir davon erfuhr, wurde das Herz ihm schwer, und er sagte zu ihr: »Übereile nichts! Halte mich nicht für unfreundlich, wenn ich dir rate, zu warten.«
»Nichts, was du tust, geschieht aus böser Absicht«, erwiderte sie. »Aber warum gibst du mir dann einen solchen Rat, kluger Bruder?«
»Kluger Bruder?«, fragte er. »Eher lahmer Bruder, ungeliebt und nicht liebenswert. Und ich weiß kaum, warum. Aber auf diesem Mann liegt ein Schatten, und ich habe Furcht.«
»Es hat einen Schatten gegeben«, sagte Níniel. »Er hat es mir erzählt. Aber er ist ihm entronnen, genau wie ich. Und ist er der Liebe nicht wert? Wenn er sich jetzt auch friedlich verhält, war er nicht einst der größte Hauptmann, vor dem all unsere Feinde flohen, wenn sie ihn sahen?«
»Wer hat dir das erzählt?«, fragte Brandir.
»Dorlas«, erwiderte sie. »Hat er nicht die Wahrheit gesagt?«
»Es ist in der Tat wahr«, sagte Brandir, doch er war missgestimmt, denn Dorlas war der Anführer jener Gruppe, die Krieg mit den Orks wollte. Dennoch suchte er weiter nach Gründen, um Níniel zum Aufschub zu bewegen, und er sagte: »Es ist die Wahrheit, freilich nicht die ganze,
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