Nachruf auf eine Rose
flirten. «Warum müssen Sie mich sprechen?»
«Sie sind bestimmt sehr beschäftigt, also komme ich direkt zur Sache. Es geht um Jenny, Chief Inspector. Ihr Verhalten beunruhigt mich.»
«Inwiefern?»
«Ich weiß es nicht genau. Es kommt mir so vor, als ob sie gar nicht um Graham trauert. Ich werde sie bitten müssen, Wainwright Hall zu verlassen und bis zur gerichtlichen Untersuchung im Hotel zu wohnen, denn sie benimmt sich, als würde ihr das ganze Haus gehören. Immer wieder rennt sie zu dem Baum, als würde der Ort eine Art magische Anziehungskraft auf sie ausüben. Sie scheint nicht im Geringsten zu trauern. Sehen Sie sich doch nur mal ihre Kleider an! Sie sagt, sie halte nichts von Trauerkleidern, aber so!»
Einen Moment lang betrachtete Fenwick Sallys blaugraues Kaschmir-Twinset, die schwere Perlenkette, die sie um den Hals trug, die schwarzen Hosen und die eleganten und sicher recht teuren schwarzen Wildlederschuhe, Sein Gesichtsausdruck musste ihn verraten haben, denn sie antwortete sofort.
«Ich sehe, Sie glauben, dass ich überreagiere, aber sie benimmt sich wirklich äußerst merkwürdig.»
So wie du, dachte er, aber er behielt seine Gedanken für sich.
«Nun?» Sally hatte offenbar erwartet, dass Fenwick ihre Bedenken ernst nähme. Vielleicht dachte sie ja, Jenny hätte für die Zeit von Grahams Tod kein Alibi, doch Fenwick wusste es besser. Sie hatte die Nacht vor Grahams Tod bei Freunden in Schottland verbracht und war erst am nächsten Morgen nach Harlden aufgebrochen, um abends an der Dinnerparty teilzunehmen. Außerdem hatten sie die Ankunftszeit des Zuges nachgeprüft. Er ärgerte sich, dass diese Frau ihm seine ohnehin schon knappe Zeit stahl. Er erhob sich und machte damit deutlich, dass die Unterredung beendet war.
«Sie ist jung und unkonventionell, aber deswegen ist sie noch lange nicht verdächtig. Natürlich werde ich eine Aktennotiz schreiben und Ihre Worte im Hinterkopf behalten.» Was durchaus der Wahrheit entsprach. Alles, was Sally durch ihren Besuch bei ihm erreicht hatte, war, dass sie sich nur noch mehr verdächtig gemacht hatte.
«Ich dachte, ich sollte Ihnen meine Bedenken nicht vorenthalten.»
«Ich weiß das zu schätzen, Mrs Wainwright-Smith. Wenn das alles ist, dann wird der Constable Sie jetzt hinausbegleiten.»
Auf der Rückfahrt nach Wainwright Hall überfuhr Sally sämtliche roten Ampeln, schnitt Kurven, fuhr ohne vom Gaspedal zu gehen haarscharf an Radfahrern und Reitern vorbei. Sie fühlte, wie die Frustration in ihr immer stärker wurde, als würde sie mehr und mehr die Kontrolle verlieren, und sie hasste dieses Gefühl. Schon von Kindesbeinen an war sie es gewöhnt, sich und ihre Umgebung fest im Griff zu haben. Sie allein hatte bestimmt, wer ihr Hoheitsgebiet betreten durfte und warum, doch nun, wo diese Polizeirüpel in ihrem Haus, ihrem Garten, ja ihrem Leben herumschnüffelten, spürte sie, wie ihr die Kontrolle mehr und mehr entglitt, und das machte sie wütend.
Sallys Wut zeigte sich auf eine seltsame Art: Nach außen hin waren keine Anzeichen erkennbar, und häufig verging dieser Zustand so plötzlich, wie er gekommen war, gerade so, als würde man einen Schalter umlegen. Doch in letzter Zeit war das Gefühl immer stärker geworden, nicht mehr so vorhersehbar und auch gefährlicher. Dieser Zustand äußerte sich dergestalt, dass sie statt zu bremsen das Gaspedal durchdrückte und dass sie die Flüche, die man ihr hinterherbrüllte, und die drohend erhobenen Fäuste völlig gleichgültig ließen. Es war ihr einfach egal. Ihre Mitmenschen waren ohne Bedeutung. Das Einzige, was nun zählte, war, dass sie so schnell wie möglich wieder Herrin der Lage wurde.
Als sie vor dem Haus zum Stehen kam, spritzte der Kies in alle Richtungen und zerstörte die gleichmäßige Oberfläche, die ihr Aushilfsgärtner in mühevoller Arbeit glattgeharkt hatte. Irene wollte sich gerade auf ihr Rad schwingen und losfahren.
«Wie kommen Sie dazu, durch die Vordertür hinauszugehen! Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, dass Sie den Dienstboteneingang zu benutzen haben!»
Irene hatte nun endgültig genug von diesem vornehmen Getue und setzte gerade zu einer entsprechenden Erwiderung an, als sie den Ausdruck in Sallys Augen bemerkte. Der Anblick machte sie schaudern, und als sie zu Hause ankam, sagte sie zu ihrem Mann: «Ihr Blick war mörderisch, kann ich dir sagen. Geradezu mörderisch.» An diesem Abend gab Irene telefonisch ihre Kündigung durch.
Geduldig wartete
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