Nachspielzeit: Eine unvollendete Fußballkarriere (German Edition)
sich in solch einer Phase an jeden Strohhalm. Die kommenden Wochen trainierte ich sehr hart und ehrgeizig unter Ollis Aufsicht. Es ging viel mehr darum, meinen ganzen Körper zu schulen und gewisse Dysbalancen abzustellen, als nur die Narben zu behandeln. Doch nach einigen Wochen waren immer noch keine Fortschritte zu erkennen, und der kleine Keim der Hoffnung war schon wieder verwelkt.
Gleichzeitig kam ich zum ersten Mal an einen Punkt, an dem ich meine gesamte angestaute Verbissenheit beiseiteließ. Ich will nicht direkt von Aufgeben sprechen, das hätte ich nicht gekonnt. Aber ich rang mich dazu durch, mich zumindest mit dem Gedanken an ein jähes Karriereende zu befassen. Ich überlegte, was ich stattdessen studieren könnte. Mir war nicht wohl bei diesen Überlegungen, aber ich hielt es für nötig, sie zuzulassen. Es mag seltsam klingen, aber dadurch bekam ich allmählich ein wenig Distanz zu meiner Situation. Ich wünschte mir immer noch nichts sehnlicher, als wieder schmerzfrei spielen zu können, aber ich steckte nicht mehr so tief in der Sache drin. Einfach nicht mehr vierundzwanzig Stunden am Tag.
Eines Morgens tanzte ich mal wieder bei Olli oben an, aber er hatte gerade zu tun. Also wartete ich und quatschte eine Runde mit Andreas Görlitz, der zu der Zeit auch in der Reha war und ebenfalls eine sehr schwere Phase durchleiden musste. Wir standen im Vorraum, wo viel Platz für Bodenübungen war, und an der Wand lehnte eine riesige Weichbodenmatte. Andi und ich unterhielten uns über unsere Verletzungen und das Gitarrespielen. Er hatte, genau wie ich, gerade damit angefangen, um sich Ablenkung zu verschaffen, und sollte später richtig gut darin werden. Heute spielt er mit seinem Bruder und einigen Kumpels in der Band Room 77 auf diversen Konzerten.
Als wir da so rumlungerten, kickte er immer wieder einen Ball gegen die Wand. Ohne darüber nachzudenken, tat ich es ihm gleich und zündete die Kugel Vollspann gegen die Matte. Zwar nicht mit voller Kraft, aber doch mit ordentlich Zug. Danach redeten wir weiter. Nach ein paar Sätzen realisierte ich erst: Es hatte gar nicht weh getan! Ich versuchte es noch einmal und spürte nichts. Als ich übermütig wurde und den Ball so fest ich konnte gegen die Wand bolzte, machte sich mein ständiger Begleiter unter den Narben wieder bemerkbar. Trotzdem, noch vor kurzem war nicht einmal an ein Schießen zu denken, bei dem der Ball schneller rollt als eine Bowlingkugel.
Von da an ging es Stück für Stück bergauf. Endlich. Meine Schmerzen ließen von Woche zu Woche in schöner Regelmäßigkeit nach. Ich konnte meine Trainingsbelastung schon bald steigern, begann mit lockerem Laufen, ging über zu etwas höherem Tempo und Steigerungsläufen. Sogar sprinten konnte ich bald wieder, und der Schmerz war einfach verschwunden. Ich kann die Erleichterung und Freude nur schwer in Worte fassen, die dem Gefühl würdig sind. Es war in etwa wie das berühmte Licht am Ende des Tunnels, das dann letztlich zu einem allumfassenden Ganzen wird, wenn man ins Freie tritt.
Auch schnelle, seitliche Bewegungen waren kein Problem mehr, und ich konnte endlich wieder an die Kugel. Ich glaube, ich hatte nie wieder so oft einen Ball am Fuß wie in dieser Zeit. Ich lieh mir einen für zu Hause aus und dribbelte in meiner Wohnung ständig damit umher vor lauter Freude, bis die Nachbarn aus Protest gegen die Wand pochten.
Das Mysteriöse an dieser Verletzung wird bleiben, dass ich nie erfahren werde, was es genau war. Niemand kann es mir bis heute mit Sicherheit sagen. Jeder kann nur vermuten. Das ist irgendwie schon komisch, spielt aber letztlich überhaupt keine Rolle. Fakt ist, dass ich beim Sport seitdem nicht ein einziges Mal wieder etwas davon gespürt habe. Mittlerweile sind die Narben so weit verblasst, dass man sehr genau hinsehen muss, um sie zu entdecken. Nur ganz selten merke ich morgens nach dem Aufwachen einen leichten Schmerz, aber nur an der rechten Narbe, wo die Notoperation vollzogen wurde. Es ist wie eine kleine Erinnerung an diese harte Zeit, aber nach ein paar Sekunden wieder vorbei, und der Tag in der Gegenwart kann beginnen.
Genauso schwierig ist es vielleicht zu erklären, warum sich die Sache überhaupt plötzlich in Luft aufgelöst hatte. Lag es an Ollis Übungen und den vielen Behandlungen? Oder lag es einfach an der Zeit, die in dem Fall wortwörtlich die Wunden geheilt hatte? Oder einfach daran, dass ich endlich mal loslassen konnte und den Dingen ihren Lauf ließ?
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