Nachsuche
nicht. Muss morgen bei Frau Menchuberta putzen. Hat heute große Party und morgen viel Geschirr.«
»Gut«, sagt Noldi, »dann übermorgen um halb vier.«
»Geht auch nicht«, entgegnet sie. »Kann erst am Tag nach übermorgen. Tut mir leid.«
»Auch gut, da haben Sie mehr Zeit zu überlegen, ob Sie sich wirklich einen Meineid leisten wollen«, gibt Noldi nach. Er meint, ein Tag mehr oder weniger spiele keine Rolle und ahnt nicht, wie sehr er sich irrt.
Abends hat Meret Mühe, ihren Mann, der ganz verstört ist, aufzumuntern.
Ganz weich küsst sie ihn auf den Mund. Normalerweise genügt das, um ihn zum Strahlen zu bringen. Diesmal passiert nichts. Sie reibt ihre nackte Brust an seinem Arm. Auch das nützt nicht. Er wendet sich nicht gerade ab, aber er lässt nach wie vor den Kopf hängen. Halb erheitert, halb beleidigt fragt sie ihn: »Du kennst doch den Spruch ›Warte ein Weilchen, sagte der Dornbusch‹.«
Endlich lächelt er, streicht ihr über das Gesicht.
»Leider stimmt das in einem Kriminalfall nicht«, antwortet er. »Da werden deine Chancen immer schlechter, je mehr Zeit vergeht.«
Und plötzlich fühlt er sich sehr viel leichter. Schon am nächsten Morgen, beschließt er, wird er aufs Ganze gehen. Er wird Kevin Pfähler vorladen, ihn mit den Beweisen konfrontieren, Shishi Tades Alibi hin oder her. Und er wird ihm den Mord an Berti Walter auf den Kopf zu sagen.
Geradezu übermütig küsst er Meret.
»Du bist wirklich ein Wunderweib!«
Sagt es, dreht sich um und ist schon eingeschlafen.
Wie leicht sich ihr Mann trösten lässt, denkt sie beglückt. Das macht fast süchtig, auch nach so vielen Jahren noch.
16. Mönch auf der Strasse
Jeder in Turbenthal und Umgebung kennt Tobias Hiestand, von allen nur ›Beseler‹ genannt. Er lebt in dem Heim für Taubstumme, das jetzt Gehörlosendorf heißt. Er ist ein kleiner Mann, leicht verwachsen, taub, stumm und mit einem Lächeln, das sein Gesicht aufreißt wie ein Sonnenstrahl den Wolkenhimmel. Es geht ihm nicht schlecht im Heim, sicher besser als vielen anderen in seiner Situation. Das sagt er sich und ist zufrieden. Er arbeitet mit anderen Heiminsassen in den Werkstätten, wo sie einfache Arbeiten verrichten. Seinen Spitznamen hat er, weil er, wann immer er kann, mit einem kurzen kleinen Besen auf der Strasse zum Friedhof unterwegs ist. Obwohl er mit seinen verkrümmten Beinen Mühe beim Laufen hat, fegt er Laub vom Asphalt und klaubt den Abfall zusammen. Am liebsten ist ihm das erste steile Stück der Schnurbergstrasse. Dort sucht er sich einen Stecken und spickt mit ihm die größeren Steine von der Fahrbahn. Er glättet den feinen Kies, schleppt herabgefallene Äste beiseite. Weiter als bis zur ersten Kehre schafft er es nicht, aber ihm genügt es. Alle, die regelmäßig mit dem Auto auf der Strecke unterwegs sind, kennen ihn, wissen, dass er sie nicht kommen hört, und sind entsprechend vorsichtig.
Anfang Oktober hatte der Beseler seinen fünfundsechzigsten Geburtstag gefeiert. Aus diesem Anlass kam er sogar in die Zeitung. Der Tössthaler brachte eine ganze Seite mit seiner Geschichte und einem Foto von ihm. Er erhielt eine Leuchtweste geschenkt, damit man ihn auf der Straße besser sieht. Er war stolz, gerührt, verlegen dazu und ratlos. Diese Gefühle sind fast zu viel für ihn. Während er früher Menschen eher ausgewichen ist, schaut er ihnen nun ins Gesicht, sieht ihre Mienen sich verändern, erst die Gleichgültigkeit, dann der zweite Blick und dann das Erkennen. Die meisten lächeln, winken, bewegen die Münder. Er bemüht sich, von ihren Lippen abzulesen.
Zur Wiedereröffnung des umgebauten und erweiterten Gehörlosendorfs gab es einen Tag der offenen Tür. Viele Leute kamen, nicht nur aus Turbenthal, sondern auch von weiter her.
Der Beseler saß mit zwei anderen Dorfbewohnern auf einer Bank vor der neuen Cafeteria. Seine Nachbarn unterhielten sich mit heftigen, unartikulierten Lauten. Er konnte es nicht hören, aber er spürte es an der Vibration ihrer Körper. Er selbst saß nur da und schaute, wie die Besucher vorüberzogen.
Da blieb mitten unter ihnen eine stehen. Gleich wird sie sich erinnern, wer ich bin, dachte er. Er kannte den Blick. Im nächsten Augenblick kam sie auf ihn zu. Sie lachte, streckte ihm die Hand hin. Er sprang auf so schnell er konnte, machte einen tiefen Bückling.
Die Frau hatte ein rundes Gesicht unter schweren, aufgesteckten Haaren. Auch ihr Körper war rund. Ihr Alter konnte er nicht schätzen. Für ihn
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