Nachsuche
amerikanischen Straßenkreuzer lenken lassen. Der Kleine war hin und weg vor Begeisterung.«
»Ja«, sagt sie und ihre Wangen schimmern plötzlich rosig. »So ist er. Und immer hilfsbereit.«
Dann senkt sie den Blick auf ihre Hände im Schoß
»Ich hätte ihn gern geheiratet«, sagt sie, »aber er Angst vor meiner großen Familie. Dass er sie erhalten muss. Hat sich von mir getrennt und mir Buddha-Figur zurückgegeben. Ich kann das verstehen.«
»Ich nicht«, wirft Noldi ein.
»Stellen Sie sich vor«, beginnt sie lebhaft, »Sie kommen aus einer Ein-Kind-Familie wie ich, aber Haushalt ist groß. Besteht aus zwanzig Personen. Ihr Vater wird alt und krank, kann nicht mehr arbeiten. Rente gibt es nur für Leute im Staatsdienst. Niemand hat eine Pensionsversicherung. Für Ältere gibt es auch keine Chance in der Wirtschaft. Sie entwickelt sich zu schnell. Alles bei uns geht jetzt schnell. Das bedeutet, ich kann nicht eigene Familie gründen, sondern muss die alten Eltern und Verwandten unterstützen. Das ist ein enormes Problem. Wenn in China Leute aus Ein-Kind-Familien heiraten, dürfen sie zwei Kinder haben. Damit irgendwer da ist, der Geld verdient für die Verwandten. Bei uns ist das so, da denken wir nicht darüber nach. Aber für einen Mann aus Europa muss das schon Horror sein. Verstehen Sie jetzt?«
Noldi hört ihr mit offenem Mund zu. Ihm kommt das, was sie da erzählt, ungeheuer vor.
»Wie haben Sie Kevin kennengelernt?«, fragt er schließlich. Er würde sie gern trösten, nur was könnte er sagen? Vielleicht, denkt er, tut es ihr gut, über ihre Liebesgeschichte zu reden. Das haben die meisten Frauen gern. Und so wie es aussieht, hängt sie immer noch an dem Mann.
Schon in der Schule, beginnt Shishi, habe sie das Bedürfnis gehabt, etwas für die Tibeter zu tun. Sie fand, ihnen sei durch ihr Volk großes Unrecht geschehen. Doch damals in China war schon das Wort Tibet höchst gefährlich. Als sie in die Schweiz kam, versuchte sie im Internat, eine Tibet-Unterstützung ins Leben zu rufen. Die Mitschülerinnen waren von der Idee angetan, misstrauten aber ihr, der Chinesin. Sie sah ein, sie könne nur persönlich etwas tun. Sie entdeckte das Tibet-Institut in Rikon, schrieb ein E-Mail und bot ihre Gratis-Dienste an. Auch dort zögerte man, ließ sie immerhin zu einem Vorstellungsgespräch kommen. Die Institutsleitung vereinbarte schließlich mit ihr, sie sollte die Separatdrucke der Bibliothek ordnen.
»Da«, sagte sie mit einem schiefen Lächeln, »konnte ich nicht viel Dummes anstellen und keine Geheimnisse herausfinden, falls ich doch eine Spionin sein sollte.«
An einem Tag im Winter, an dem sie im Institut arbeitete, stieß der Gemeindearbeiter beim Salzstreuen mit einem entgegenkommenden Auto zusammen. Zum Glück wurde niemand verletzt, aber der andere Wagen war stark beschädigt und die Fahrerin stand unter Schock. Sie wollte ihre Tochter für ein Interview mit einem Mönch ins Institut bringen. Die Dreizehnjährige musste in der Schule einen Aufsatz über die Tibeter in der Schweiz schreiben.
Die Sekretärin und Shishi versorgten die beiden mit heißem gezuckertem Tee. Sie kamen aus Sirnach, und die Frau bestand darauf, dass der Wagen dorthin abgeschleppt würde. Die Sekretärin fuhr Frau und Tochter nachhause. Währenddessen kam ein junger Mönch und wollte einen Ausdruck von einem tibetischen Gebetstext. Er sagte, es sei dringend. Shishi steckte seinen Memostick an den Computer und das System brach zusammen. Zu allem Elend läutete es in dem Moment auch noch an der Tür. Als sie öffnete, stand Kevin vor ihr. Ein Besucher war das letzte, was Shishi jetzt brauchen konnte. Sie hatte völlig den Kopf verloren aus Angst, etwas kaputt gemacht zu haben. Sie dachte, man würde sie verdächtigen, sie wolle das Tibet-Institut sabotieren. Sie war schließlich Chinesin.
»Ich komme den Wagen abholen«, sagte er.
»Was?«, fragte Shishi den Tränen nahe.
»Ist es Ihr Auto?«, erkundigte Kevin sich mitfühlend.
»Nein«, sagte Shishi verzweifelt, »der Computer.«
Kevin stutzte, doch dann sagte er beruhigend: »Na na, junge Frau, so schlimm kann das nicht sein. Zeigen Sie einmal, das kriegen wir schon wieder hin.«
Er brauchte zehn Minuten, dann lief der Computer wieder. Shishi begleitete ihn zur Tür. Er holte das Abschleppseil aus seinem Wagen und hängte das havarierte Auto an. Bevor er losfuhr, fragte er Shishi, ob er sie anrufen dürfe. Sie gab ihm ihre Telefonnummer. Eine Woche später meldete
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