Nachsuche
Das alles ist passiert, bevor ich ein zweites Mal mit ihm sprechen konnte.«
»Aber er hat doch nichts mit Bertis Tod zu tun«, sagt Niederöst.
Noldi lächelt ihn an. »Wahrscheinlich nicht«, sagt er zuvorkommend.
»Ja, ja ich weiß«, sagt der Doktor, ein wenig ungeduldig, »es gibt nichts, was es nicht gibt.«
»Würden Sie bei einem kniffligen Fall von vornherein Dinge ausklammern, ohne sie zu untersuchen?«, fragt Noldi scheinheilig.
»Wohl kaum«, gibt der Doktor zu. Dann schweigt er eine Weile.
Noldi fragt sich, woran er denkt.
Schließlich beginnt Niederöst: »Zu einem Wachkoma kommt es, wenn Funktionen des Großhirns ausfallen oder zumindest große Teile davon. Erhalten bleiben aber Funktionen von Zwischenhirn, Hirnstamm und Rückenmark. Deshalb schauen die Leute aus, als wären sie wach. Man geht allerdings davon aus, dass sie kein Bewusstsein haben. Auch ihre Möglichkeiten, sich mitzuteilen, sind äußerst eingeschränkt oder gar nicht vorhanden. Die Patienten liegen da mit offenen Augen. Sie schauen entweder starr vor sich hin oder ihre Augen bewegen sich. Man kann ihre Aufmerksamkeit aber nicht auf sich ziehen. Ansprechen, Anfassen, Vorhalten von Gegenständen nützen nichts.«
»Das habe ich bemerkt«, sagt Noldi lebhaft und erzählt dem Doktor, wie er sich vor dem Notar zum Narren gemacht hat.
Niederöst lacht.
»Ja, es ist schwer zu verstehen.«
»Wodurch entsteht so etwas?«, erkundigt sich Noldi.
»Das müssen schon schwere Schäden am Gehirn sein«, antwortet der Arzt. »Vermutlich hat er einen Schock erlebt. Etwas, das einen Kreislaufstillstand oder einen Schlaganfall ausgelöst hat. Dadurch ist es dann zu einem Sauerstoffmangel im Gehirn gekommen. Aber das sind nur Vermutungen. Da ich den Befund nicht kenne, ist es für mich schwer, Ihnen eine vernünftige Antwort zu geben.«
»Die im Krankenhaus haben gesagt, er wird kaum mehr aufwachen. Die Schäden im Gehirn scheinen zu groß.«
»Das ist gut möglich.«
»Und wird er daran sterben?«, fragt Noldi.
»Nicht zwangsläufig. Wenn die vegetativen Funktionen in Ordnung sind, kann er noch jahrelang so weiterleben.«
»Irgendetwas in Bertis Leben«, fängt Noldi nach kurzem Schweigen wieder an, »hat dazu geführt, dass sie in diesem Wald gelandet ist. Da war kein Sexualverbrecher hinter einem Strauch, der auf das nächstbeste Opfer gelauert hat. Sie wurde weder vergewaltigt noch gefoltert, noch hatte sie vor ihrem Tod Verkehr. Ein Kollege von mir hat den schlechten Witz gemacht, sie sei vorher ermordet worden. Vielleicht ist da etwas dran. Aber warum? Da müssen Sie mir weiterhelfen, Doktor. Sie haben sie gekannt, Sie und der Notar Kläui. Aber der sagt nichts mehr. Bei dem komme ich mit meinen Fragen zu spät.«
Niederöst schaut nachdenklich vor sich hin. »Ich glaube, ich weiß, was Sie meinen. Im Augenblick fällt mir nichts ein, das Ihnen weiterhelfen könnte. Sie müssen mir Zeit geben.«
Noldi versteht, damit ist die Audienz beendet. Ihm passt das aber nicht. Er will, dass Niederöst redet, ohne vorher lange darüber nachzudenken. Was nützt es ihm, wenn der gute Doktor Zeit hat, sich zurechtzulegen, was er sagen will und wie viel. Er hat nur mehr ihn, um Näheres über Bertis Leben zu erfahren, nachdem der Notar in diese unselige Mauer gefahren ist. Der hätte sicher einiges gewusst, was ein Licht auf Bertis Charakter geworfen hätte.
Er steht zögernd auf.
»Herr Niederöst«, sagt er, und wundert sich über sich selbst, »wo waren Sie Dienstag, den 10.11. Nachmittag?«
Der Doktor schaut ihn an.
»Ist das Ihr Ernst?«
»Reine Routine«, beschwichtigt ihn Noldi.
»Ja, ich weiß«, sagt Niederöst. »Vermutlich hier. Warten Sie, wo ist mein Terminkalender.«
Er verlässt den Raum und Noldi hört ihn draußen mit der Praxishilfe reden. Es dauert lange, bis er wiederkommt, den Kalender in der Hand.
Er sagt: »Zu dumm, ich habe einen Hausbesuch gemacht.«
Noldi traut seinen Ohren nicht. »Was ist da dumm daran?«, fragt er.
»Ich kann Ihnen nicht sagen, bei wem ich war. Sie wissen, ärztliche Schweigepflicht.«
»Doktor, es handelt sich um Mord.«
»Wenn es einer war«, unterbricht Niederöst ihn eilig.
»Lassen sie uns nicht wieder von vorn anfangen.«
»In Ordnung. Aber«, seufzt Niederöst, »Sie werden keine Freude an dem haben, was ich Ihnen jetzt sage.«
»Bitte, Herr Doktor?«
»Ich habe Göpf Kläui getroffen.«
»Mhm«, macht Noldi.
»Es tut mir leid, das müssen Sie mir einfach glauben«, sagt
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