Nacht
ihre Verbrechen schrieb. Wie weit war ich wohl von der Wahrheit entfernt?
Aber wenn es weder die Master waren noch Tito und seine Sekte, wer hat diese Menschen dann umgebracht? Wie viele andere Verbrecher laufen hier unbehelligt durch die Straßen?
»Woran denkst du?«, fragt Morgan.
»An die Morde. Und an die Täter. Die Polizei hat verschiedene Haare an den Tatorten gefunden, Haare von jungen Leuten.«
»Wirklich?« Er ist sichtlich beunruhigt.
»Was meinst du, wer es gewesen sein kann? Ich bin mit meiner Auswahl an Verdächtigen am Ende.«
»Eins nach dem anderen, Alma. Im Moment musst du dich vor allem vor diesen Männern hüten.«
»Ich verstehe immer noch nicht, warum. Was wollen sie von mir?«
»Sie sind hinter dir her.«
»Aber warum?«
Morgan zeigt auf das violette Heft.
»Wegen dem, was du schreibst«, antwortet er.
Ich reiße die Augen auf. »Morgan, du musst …«
»Nein. Ich muss gar nichts. Niemand von uns muss. Wir
können.
Können ist stärker als Müssen.«
»Aber ich …«
Er küsst mich, bringt mich zum Schweigen. Seine Lippen sind sanft und verströmen pure Energie. Ein Stromstoß fährt durch mich hindurch und verbindet mich mit ihm, ein elektrischer Strom, in dem Gedanken und Kräfte fließen. Als wir uns, Auge in Auge, im Licht der Nachttischlampe aus der Umarmung lösen, flüstert er mir zu: »Das ist alles ein bisschen viel auf einmal für heute Nacht. Versuch jetzt zu schlafen, du wirst total erschöpft sein. Eines Tages wirst du alles besser verstehen.«
Sein Atem hat weder Geruch noch Geschmack. Er hüllt mich ein, gibt mir Geborgenheit.
»Vertraust du mir?«
Ich nicke. Und bin selbst überrascht, denn zum ersten Mal in meinem Leben traue ich wirklich jemandem.
Morgan sorgt dafür, dass ich mich hinlege, noch angezogen, und deckt mich zu.
»Es dämmert schon«, murmele ich.
»Ja. Noch ein paar Minuten, dann hat die Dunkelheit ein Ende«, sagt er, ehe er mir noch einmal kurz die Hand auf die Stirn legt und in den letzten Schatten der Nacht verschwindet.
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Kapitel 58
N ach dem Licht zu urteilen, das durch die Jalousien fällt, ist es Morgen. Ich erwache ausgeruhter, aber total benommen. Als hätte mich jemand aus meinem Leben herausgerissen und weggeworfen wie etwas, das nicht mehr gebraucht wird.
In der Wohnung ist es still. Jenna schläft noch nach ihrem Nachtdienst. Evan ist weg. Die Wärme einer heiteren Frühlingssonne dringt durch die Fenster herein. In der Küche werfe ich einen Blick auf die Uhr mit den Vögelchen: Es ist zehn. Zu spät für die Schule.
Heute finde ich Schwänzen gerechtfertigt.
Ich mache mir eine Tasse Kaffee und trinke sie auf dem Sofa, auf dem Lina immer ihre geliebten Zeichentrickfilme guckt.
Meine Erinnerungen an die Nacht sind wirr und qualvoll. Die Beklemmung wird nur teilweise von Morgans Worten und dem erholsamen Schlaf gemildert. Der Kaffee ist stark und bitter. Alles ist außer Kontrolle geraten.
Ich muss immer wieder an Evan denken. Was mag ihm durch den Kopf gegangen sein, als er mich mit dieser Stange in der Hand gesehen hat? Eigentlich war ich davon ausgegangen, dass er heute Morgen wie eine Furie in mein Zimmer stürmen und eine Erklärung verlangen würde; fragen würde, was ich in der Sporthalle verloren hatte, auf seinem Territorium. Aber nichts. Nur der Zettel.
Ich ziehe mich an. Rock, kurzer Pullover, Ballerinas und meine gewohnte Jacke. Im Aufzug muss ich daran denken, was Morgan gesagt hat, bevor er ging.
Vertrau mir.
Er wirkte stark und präsent auf mich, wie noch nie jemand zuvor. Ich kann das, was uns vereint, nicht richtig benennen, aber was es auch ist, es ist sehr mächtig.
Als ich aus dem Haus trete, trifft mich ein kühler Windstoß, der nach frischen Blüten duftet.
Morgan hat recht: Die Schönheit der Welt verbirgt sich.
Die Luft ist prickelnd, erfüllt von neuem Leben.
Wie sehr wünschte ich, mein Alptraum wäre nicht real.
Wie sehr wünschte ich, ich würde feststellen, dass alles nur ein Irrtum ist, ein makabrer Scherz meiner Phantasie.
Und dass das Böse nicht in mir ist.
Ich schlendere durch die Allee, in Richtung der Kirche in unserem Viertel. Am Zeitungskiosk bleibe ich wie angewurzelt stehen.
Agatha ist verhaftet worden.
Die Nachricht prangt auf allen Titelseiten: »Siebzehnjährige verwandelt Tante zu Stein«.
Ich kaufe auch diesmal gleich mehrere Tageszeitungen.
Keiner der Artikel stammt von Roth.
Es sieht vielmehr so aus, als hätte eine Zeitung von der anderen
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