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Nacht

Nacht

Titel: Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Melodia
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abgeschrieben. Sie beschreiben das Muschelhaus und dann in groben Zügen Agathas Schicksal – dass ihre Eltern bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen sind und ihre Tante das Sorgerecht erhielt, jedoch bald darauf an Krebs erkrankte. Während ihrer letzten Lebenstage soll Agatha ihr eine Substanz injiziert haben, die dazu diente, den Verwesungsprozess des Gewebes aufzuhalten und Muskeln und Blut zu versteinern. Der Gerichtsmediziner ist sich sicher, dass die Injektionen bereits vorgenommen wurden, als die Frau noch lebte, so dass die petrifizierende Lösung durch die Herztätigkeit im ganzen Körper verteilt werden konnte. Doch darüber gibt es offenbar noch widersprüchliche Theorien.
    Nach Lage der Dinge, so analysiert es ein Psychologe, sei es Agatha nicht einfach nur darum gegangen, vorzutäuschen, die Tante wäre noch am Leben. Seiner Ansicht nach glaubte sie wirklich, ihr mit diesen Spritzen etwas Gutes zu tun. Sie war überzeugt davon, ihre Tante vor dem Tod gerettet zu haben, den Lauf der Zeit aufgehalten und ihren Körper unsterblich gemacht zu haben. Das Bild von Agatha, das sich daraus ergibt, ist das einer intelligenten und introvertierten Geistesgestörten. Es werden Aussagen von Lehrern und Klassenkameraden angeführt, und ich verstehe nicht, wann und wie diese zusammengetragen wurden. Kein Reporter hat mich nach meiner Meinung gefragt, dabei halte ich mich für eine der wenigen Freundinnen Agathas.
    Doch falls das nicht alles frei erfunden ist, kann es nur bedeuten, dass die Journalisten schon mit jemandem aus der Schule gesprochen haben. Vielleicht mit dem Direktor oder mit Adam, und die Geschichte mit dem Brand im Direktorat ist so auch herausgekommen.
    Vermutlich sind sie jetzt alle dort, filmen und fotografieren alles: Schüler, Lehrer, Personal. Ich habe meinen Fehltag gut gewählt.
    Wütend blättere ich eine Zeitung nach der anderen durch. Wie konnten sie das alles schreiben, und so schnell? Als hätten sie schon alles vorbereitet gehabt und nur noch die Namen einzusetzen brauchen. Ein ausführlicherer Artikel befasst sich damit, wie der Prozess der Versteinerung, den Agatha bewirkt hat, zustande gekommen sein könnte. Es handele sich nicht um eine völlig neue Erfindung, denn es gebe eine »Rezeptur« eines berühmten Mediziners, der es vor ein paar Jahrhunderten an Tieren und menschlichen Körperteilen ausprobiert habe, mit verblüffenden Ergebnissen. Sogar Fotos von den versteinerten Gliedmaßen sind abgebildet. Sie sehen aus wie Bruchstücke von Marmorstatuen. Auch die Formel wird weiter unten wiedergegeben: eine Lösung aus Kaliumsilikat, fixiert in einer Lösung aus zehn Prozent Formalin und drei Prozent sublimiertem Ätzmittel, sowie weiteren »Zutaten«, die der Arzt mit sich ins Grab genommen und die Agatha zu rekonstruieren versucht hat.
    »Da habt ihr die praktische Anleitung, wie ihr eure Eltern versteinern könnt, Leute«, murmele ich und reiße den Artikel heraus, um ihn mitzunehmen. Ich werde mit Professor K. darüber sprechen – ich will herausfinden, ob der einzige Erwachsene, den ich an meiner Schule mag und respektiere, über Agathas Absichten Bescheid wusste.
    Eine andere Zeitung berichtet darüber, dass Agatha auf keinen Fall ins Waisenhaus wollte (was nur für ein Jahr gewesen wäre, da sie dann volljährig sei) und nun stattdessen in einer Besserungsanstalt landen würde (wo sie vermutlich viel länger bleiben müsse). Die Polizei sei dabei, die Leiche der Tante zu obduzieren, um festzustellen, wie lange vor ihrem Ableben Agatha mit der »Therapie« begonnen habe. »Ich hatte schon immer einen Verdacht«, wird eine Nachbarin zitiert, die ich auf dem Schwarzweißfoto daneben wiedererkenne. »Ich habe diesem Mädchen nie über den Weg getraut!«
    Ich lese weiter, finde aber keinen Hinweis darauf, wie es Agatha geht oder wo sie jetzt ist.
    Ich muss mit Sarl sprechen. Der Kommissar hat Wort gehalten: nirgends eine Andeutung darüber, wie die Polizei von den Vorgängen in diesem Haus erfahren hat. Dennoch kann ich nicht umhin, mich für Agathas Verhaftung allein verantwortlich zu fühlen.
    Ich habe das Geflecht des Wahnsinns zerschlagen, in dem sie sich verfangen hatte, aber jetzt will ich mich davon überzeugen, dass es ihr gutgeht.
    Agatha wird sich denken, dass ich es war.
    Keine Frage.
    Trotzdem werde ich aufs Kommissariat gehen.
    Ich blättere sämtliche Zeitungsseiten durch, überfliege mit wachsender Unruhe jede Spalte, aber nein, zum Glück ist da keine Rede

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