Nacht
von neuen Morden. Kein toter Musiker, kein Sportclub des Schreckens.
Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen soll oder nicht, denn letztlich bedeutet das nur eines: dass ich es war, die Evan gestern Nacht umbringen sollte.
Jetzt habe ich die Gewissheit.
Aber warum? Wer bin ich wirklich? Was um alles in der Welt passiert mit mir?
Ich atme tief ein und aus. Es muss für all das eine schlüssige Erklärung geben.
Vielleicht stehe ich unter dem Einfluss von jemandem. Jemandem, der mich lenkt und beherrscht wie eine Marionette. Ich lache nervös auf: Es ist zwar absurd, aber mir schießt der Gedanke durch den Kopf, dass Mahl mich hypnotisiert haben könnte, als ich bei ihm war, um mich von dem nicht vorhandenen Trauma heilen zu lassen.
Steif stehe ich auf. Betrachte prüfend meine Hände, die zittern. Aber da sind keine sichtbaren Marionettenfäden.
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Kapitel 59
A uf dem Polizeirevier geht es heute hoch her. Scharen von Journalisten belagern den Eingang, um zu beobachten, wer ein und aus geht, während drinnen das größte Durcheinander herrscht. Uniformierte Beamte versuchen, wie in einem fürchterlichen Verkehrsstau die Situation in den Griff zu bekommen.
Da unbeschadet hindurchzugelangen, kann ich vergessen.
»Alma? Alma! Warte mal!«, ruft eine Stimme aus der Menge.
Ich bleibe stehen und sehe Roth, der sich einen Weg zwischen seinen Kollegen bahnt wie ein Aal in meinem Meer von Fischen.
»Hallo«, sage ich lächelnd, als er nahe genug heran ist.
»Tut mir leid wegen der Verabredung von neulich. Ich hatte ein Problem mit dem Auto und konnte nicht rechtzeitig hier sein.«
»Macht nichts.«
Ich erinnere mich noch nicht einmal, von welcher Verabredung er spricht. Roth sieht auf seine Armbanduhr und fragt: »Müsstest du nicht in der Schule sein?«
»Lass gut sein, das ist nicht der Tag für so was.«
Er mustert mich seltsam. Ich höre geradezu, wie Windungen seines Gehirns zu rattern beginnen.
»Auf welche Schule gehst du eigentlich?«
»Warum fragst du?«
»Weil du das Mädchen kennen könntest, das seine Tante versteinert hat. Du hast doch davon gehört, oder?«
»Klar, steht ja in allen Zeitungen.«
»Kennst du diese Agatha?«
Ich überlege kurz und komme zu dem Schluss, dass es besser ist, die Wahrheit zu sagen. Er wird sowieso alles herausfinden. »Sie ist eine Klassenkameradin.«
Roths Augen leuchten auf. Meine dagegen sind matt und erloschen: Ich habe eine Klassenkameradin verhaften lassen, eine meiner Freundinnen, und beinahe meinen Bruder Evan umgebracht. Ich fühle mich wie ein Monster.
Roth fasst mich am Arm. »Du musst mir alles über sie erzählen. Exklusiv.«
»Nicht jetzt, Roth.« Ich darf keine weitere Zeit hier vertun. Ich muss mit Sarl sprechen.
»Wann?«
»Ich weiß nicht«, sage ich und zeige auf die Polizistin Lilia, die damit beschäftigt ist, einer Menschentraube Informationen zu geben. »Die Polizei hat mich genau deswegen herbestellt.«
Er nickt. »Verstehe. Natürlich. Aber … nur zwei Worte! Ich bitte dich um zwei Worte. Stimmt es, dass deine Mitschülerin ein Verhältnis mit dem Chemielehrer hatte?«
»Agatha?« Ich breche in Lachen aus, ein schneidendes Lachen, das weh tut. »Was redest du da?«
Böse Gerüchte verbreiten sich schnell.
»Und was weißt du über den Brand im Direktorzimmer? An deiner Schule ist ganz schön was los …«
Ich befreie mich aus seinem Griff. »Entschuldige, Roth, aber ich muss jetzt wirklich da rein.«
»Von Reporter zu Reporter, Alma. Ich habe dir mit deinem Artikel geholfen. Jetzt kannst du mir helfen«, sagt er und setzt sein charmantestes Lächeln auf.
»Wir können uns später treffen, wenn du willst. Ruf mich an«, erwidere ich, bevor ich möglichst schnell zwischen den Leuten untertauche.
In selbstbewusster Haltung steuere ich den Gang mit den Dienstzimmern an. Überall Türen, die sich öffnen und schließen. Auch hier geht es drunter und drüber. Die Polizisten rennen zwischen klingelnden Telefonen und Papier speienden Kopiergeräten hin und her. Ungehindert erreiche ich Sarls Büro und klopfe an.
Eine Stimme ruft: »Herein.«
Ich zögere einen Moment.
»Herein!«
Sarl sitzt an seinem Schreibtisch, der wie üblich so mit Papieren und Akten zugedeckt ist, dass man die Tischplatte nicht sieht. Im Zimmer riecht es nach japanischem Essen und Tabak.
Er hebt den Blick von irgendwelchen Unterlagen und starrt mich an, als hätte er es mit einem Geist zu tun.
»Alma … hallo. Ich hatte nicht so bald mit dir
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