Nacht
die anderen. Aber er geht wahnsinnig schnell.
Schon höre ich das Knirschen seiner Schritte auf dem Kies hinter mir.
Das ist zu viel.
»Nein!«, schreie ich und stürze los wie eine Wahnsinnige.
Ich probiere es mit einem Fluchtweg zwischen den Bäumen. Springe über Beete und Büsche und suche das Dunkel, um mich darin zu verstecken.
Doch die Dunkelheit hilft mir nicht. Im Gegenteil, sie raubt mir die Orientierung.
Mein Verfolger ist mir dicht auf den Fersen. Ich sehe kaum noch, wohin ich meine Füße setze. Meine größte Furcht ist zu stolpern, denn dann hätte ich keine Chance. Ich springe, weiche aus, ducke mich und laufe noch schneller, auf den künstlichen Flusslauf durch den Park zu. Mein Atem geht stoßweise und keuchend, meine Beine verkrampfen sich vor Angst.
Aber ich bleibe nicht stehen.
Morgan!
Ich könnte nicht sagen, ob ich ihn wirklich rufe oder es nur denke.
Wenige Schritte vor dem Kanal breche ich aus dem Gebüsch hervor. Das Tosen des Wassers ist lauter hier, beinahe ohrenbetäubend.
Ich hasse Wasser.
Irgendwo muss es einen Steg über den Kanal geben. Ich drehe mich nicht um. Der Lärm des Wassers übertönt die Schritte meines Verfolgers.
Ich halte nach Hilfe Ausschau, aber mit Einbruch der Nacht scheint hier keine Menschenseele mehr unterwegs zu sein. Niemand mehr da. Kein Morgan, noch nicht einmal der Penner von vorhin. Wo ist die Brücke? Rechts? Links? Mein Zögern wird mir zum Verhängnis, denn nun hat mich mein Verfolger eingeholt. Er packt meinen Arm mit eisernem Griff und reißt mich zurück. Jetzt sehe ich ihn klar und deutlich: Er trägt den üblichen Hut und einen dunklen Anzug. Er ist wie die anderen, die mir nachgestellt haben. Obwohl er weder Brille noch Handschuhe trägt.
Ich öffne den Mund, um zu schreien, bringe aber vor Angst keinen Laut heraus. Es würde mir ohnehin nichts nützen, weil sich niemand mehr in diesem verdammten Park aufhält.
Ich falle hin und rolle mit ihm zusammen durchs Gras. Der Hut rutscht von seinem Kopf und eiert davon wie ein verlorener Autoreifen, bis er an einem Baumstamm landet. Oh Gott, sein Ohr! Es ist abgeschnitten! Und er ist kahlköpfig.
Aber das ist nicht alles. Im Licht der Straßenlampe blitzt ein Ring an seinem Finger. Ich erkenne ihn sofort. Ich weiß, was es ist.
Der Meeresdrache.
Er ist ein Master.
Aber wer oder was ist dieser Master?
In dem Gemenge aus Händen und Kleidern gelingt es mir, ihm für eine Sekunde ins Gesicht zu sehen, ehe er mich überwältigt und mir die Hände um den Hals schraubt. Ich höre das Wasser dicht neben mir strudeln. Fließendes Wasser, mächtig und angsteinflößend.
Der Master ist ein Mensch, zumindest glaube ich das. Seine Augen glimmen wie zwei frostweiße Stecknadelköpfe in der Nacht. Um sie herum nur totenbleiche Haut. Keine Augenbrauen, keine Haare. Nichts.
Ich lese nur eines in seinen Augen: Hass. Und während ich versuche, mich aus seinem Klammergriff zu befreien, erkenne ich, dass er nur ein Ziel hat: mich zu töten.
Er ist stark. Sehr stark. Viel zu stark für mich.
»M…organ!«, rufe ich mit der letzten Luft in meiner Lunge.
Er ist immer aufgetaucht. Er ist immer gekommen. Er hat mich immer beschützt. Wo ist er jetzt?
Der Master beugt sich über mich, mörderisch und stumm. Ich kratze und beiße, aber völlig vergebens. Ich atme nicht mehr. Spüre das kalte Metall seines Rings an meinem Hals.
Dann greife ich instinktiv in meine Tasche. Der Stahlfüller. Ich packe ihn wie ein Messer und stoße ihn meinem Angreifer mit letzter Kraft in den Arm.
Er reißt den Mund auf, als wollte er schreien, aber es kommt kein Ton heraus. Sein Griff lockert sich abrupt.
Ich ziehe den Füller aus seinem Arm und steche ihn mit noch mehr Wucht in seinen Hals. Der Stahl dringt mit einem schmatzenden Geräusch in das Fleisch ein. Herausspritzende Flüssigkeit trifft mich im Gesicht. Sie hat die Farbe von Blut, scheint aber viel weniger dick zu sein.
Der Mann brüllt lautlos. Er tastet nach seinem blutigen Hals und springt auf, taumelt, schwankt.
Ich rolle mich herum und werfe mich gegen ihn, um ihn in den Kanal zu stoßen. Der Zusammenstoß mit seinem Körper ist so hart, als wäre ich gegen eine Betonmauer geflogen.
Trotzdem verliert er das Gleichgewicht, rudert mit den Armen und sieht mich noch einmal kurz mit seinen Eisaugen an. Dann landet er mit einem Plumps im Wasser und wird von der Strömung fortgerissen. Ich sehe ihn in einem Gischtstrudel verschwinden.
Wie angewurzelt bleibe ich
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