Nacht
abgenommen.
»Erkennst du ihn?«
»Nein … Das ist ja noch ein Junge!«
Naomi ist genauso überrascht. Es ist eine Sache, sich etwas vorzustellen, aber eine ganz andere, sie mit eigenen Augen zu sehen. Man kann unmöglich darauf vorbereitet sein, in einem Gleichaltrigen einen Mörder zu sehen.
»Bist du sicher?«
»Ja. Ich weiß nicht, wer das ist.«
»Ein Glück.«
»Er könnte allerdings einer anderen Sekte angehören.«
»Könnte sein, ja.«
Tief im Innern weiß ich, dass es nicht so ist. Ich spüre, dass da etwas Größeres, viel Beunruhigenderes und Gefährlicheres sein Unwesen in der Stadt treibt. Etwas, das mich an dem Abend gestreift hat, als ich kurz davor war, Evan umzubringen, etwas, das ich aufdecken und bezwingen muss, ehe es von mir Besitz ergreift.
Das Knäuel aus Reportern und Fotografen schiebt sich auf den Eingang des Polizeireviers zu. Ich lasse Naomi absteigen.
»Und was machen wir jetzt?«, fragt sie.
»Wir gehen auch rein. Dann kannst du deine Anzeige erstatten, während ich …«
Naomi sieht mich an.
»Während ich auf dich warte. Traust du dir’s noch zu?«
»Gehen wir.«
[home]
Kapitel 62
I m Vorraum des Kommissariats herrscht ein Tohuwabohu aus Stimmen, schubsenden Körpern, Gerüchen und Geräuschen. Alle wollen den Mörder sehen, erfahren, wer er ist, Einzelheiten hören. Ich sehe mich um, doch Sarl und der Junge sind verschwunden, haben sich bestimmt in irgendein Zimmer zur Vernehmung zurückgezogen.
Naomi und ich bahnen uns einen Weg zwischen den Leuten hindurch und schaffen es bis zur Anmeldung, wo die unvermeidliche Lilia dünkelhaft residiert wie eine Bienenkönigin in ihrem Stock.
Zufrieden feixt sie bei jedem »Tut mir leid, aber Sie müssen hier warten«, mit dem sie die Journalisten abspeist, die zu Sarl möchten.
Uns wird sie jedoch eine Antwort geben müssen.
»Guten Tag«, grüße ich.
»Hallo«, erwidert sie säuerlich, weil ich schon wieder hier bin.
»An wen müssen wir uns wenden, um eine Straftat anzuzeigen?«
»Den Gang rechts, Zimmer neun.«
Diesmal hat sie noch nicht mal versucht, mich abzuwimmeln. Sie weiß jetzt, dass ich nur Sarl zu rufen brauche, um ihr jede Macht über mich zu nehmen. Tut gut zu sehen, wie ihr das höhnische Grinsen vergeht.
»Danke.«
Naomi und ich folgen ihrer Wegbeschreibung.
»Was für eine Type!«, bemerkt Naomi.
»Das kannst du laut sagen.«
Wir biegen in den rechten Gang ab. Der Flur wird durch Neonröhren an der Decke beleuchtet, ist aber viel dunkler als der auf der anderen Seite, wo Sarl sein Büro hat. Durch die Fenster fällt kaum Licht, die Türen sind alle geschlossen.
Auch die Nummer neun.
Ich klopfe an.
»Herein«, ruft es von drinnen.
Wir betreten einen quadratischen, nicht sehr großen Raum, dessen Wände mit hohen Regalen voll ordentlich aufgereihter Aktenordner zugestellt sind. Nur ein rechteckiges Fenster an der einen Seite ist frei geblieben. Mittendrin, an einem Schreibtisch aus dunklem Holz, sitzt ein Polizist. Es ist ein junger Mann mit offenem Blick und freundlichem Lächeln.
»Was kann ich für euch tun?«
Ich will gerade antworten, aber Naomi kommt mir zuvor. »Ich möchte eine Strafanzeige erstatten«, erklärt sie fest.
»Setzen Sie sich bitte.«
Sie drückt meinen Arm. »Geh ruhig, Alma. Ich komme allein zurecht.«
»Bist du sicher?«
»Ja, klar.«
»Wie du willst. Ich warte draußen auf dich. Wenn du mich brauchst, ruf mich.«
»Okay, danke.«
Ich lasse Naomi in dem Raum mit dem jungen Polizisten allein und mache mich auf die Suche nach einem Kaffeeautomaten. Ich brauche dringend eine Dosis Koffein. Am Eingang, in der Nähe der Aufzüge, habe ich im Vorbeigehen einen gesehen. Als ich darauf zugehe, höre ich zwei männliche Stimmen im Gespräch miteinander. Ich spähe um die Ecke. Zwei Polizisten stehen vor dem Automaten und schlürfen ihren Kaffee. Ihre Gesichter kann ich nicht erkennen, denn sie kehren mir den Rücken zu.
»Diesmal ist es so weit«, sagt der eine.
»Sieht so aus. Sarl hat endlich einen geschnappt. Scheint der Täter aus dem Park zu sein.«
»Wie kommt er darauf?«
»Die schwarzen Handschuhe. Er hat eine ganze Sammlung davon im Schrank des Jungen gefunden. Sie werden gerade untersucht.«
»Hm, abwarten. Ich wette, dass der Mörder immer derselbe ist.«
»Und wie erklärst du dir die verschiedenen Haare, die die Spurensicherung gefunden hat?«
»Weiß auch nicht. Vielleicht war der Tatort kontaminiert.«
»Jedenfalls ist es unglaublich, dass es
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