Nacht
Treppe zum Eingang des Polizeigebäudes wimmelt es schon von Fotografen und Reportern.
Es wird wohl ziemlich schwierig werden hineinzukommen.
Aber Roth hat offenbar gar nicht die Absicht, zumindest im Moment nicht.
»Wir stellen uns hier auf«, weist er Eva an, die eine große Fotokamera schleppt. Sie plazieren sich so, dass sie den Eingang überblicken können. Aus ihren Wortwechseln schließe ich, dass der Mörder noch ins Kommissariat gebracht werden muss.
Auf einmal zieht mich Naomi beiseite.
»Willst du mir mal erklären, was hier vorgeht? Was ist das für ein Quatsch mit der Schülerzeitung? Und dem Interview über Agatha?«
»Das kann ich dir jetzt nicht sagen. Es ist nur ein Weg, um ihr zu helfen.«
»Und Tito?«
»Die Polizei glaubt, dass es eine Verbindung zwischen Tito, seiner Sekte und den Mordfällen in der Stadt geben könnte.«
»Deswegen hast du so darauf beharrt, dass ich sie anzeige?«
»Auch.«
»Und dieser Mörder, den sie verhaftet haben? Meinst du, es ist einer von der Sekte?«
»Ich weiß es nicht. Aber sie werden es vielleicht bald herausfinden.«
Naomi senkt den Blick. Sie ist sichtlich beunruhigt.
»Wenn es dir zu viel wird – da ist ein Café auf der anderen Straßenseite. Du kannst dort auf mich warten.«
»Nein, ich bleibe hier. Schließlich könnte ich … ihn wiedererkennen.«
Danach sagen wir nichts mehr. Aber die Anspannung ist groß. Man kann sie spüren wie ein Magnetfeld, das uns alle auf Sicherheitsabstand zueinander hält.
Jeder blickt starr geradeaus, erwartungsvoll.
Wir brauchen nur wenige Minuten zu warten, bis zwei Streifenwagen mit Sirenengeheul am Ende der Straße auftauchen und auf uns zurasen.
Fotografen und Reporter bringen sich mit ihren Apparaten in Position.
Naomi nimmt meine Hand, ohne mich anzusehen, und drückt sie so fest, dass es schmerzt. Ich bemerke, wie sie am ganzen Körper bebt, wie ihre Muskeln sich anspannen, aktiviert von einer unbekannten Kraft, über die sie keine Kontrolle hat.
Die beiden Polizeiautos halten dicht vor uns. Aus dem ersten steigen zwei Beamte, die sofort zu dem zweiten gehen und die hintere Seitentür öffnen. Alle Augen sind darauf gerichtet. Die Medienleute rücken immer näher heran, bis sie die Wagen eingekreist haben. Roth, Eva und die anderen drängen sich an uns vorbei, als würden wir gar nicht existieren.
»Kommissar Sarl?«, höre ich es wiederholt rufen. »Kommissar Sarl!«
»Eine Erklärung, Kommissar!«
Jeder versucht, ihn auf sich aufmerksam zu machen.
Durch das Dickicht aus Rücken, Köpfen und Armen erhasche ich einen flüchtigen Blick auf Sarl, sehe einen Teil seines Gesichts, müde und hager, einen Zipfel seiner unvermeidlichen schwarzen Lederjacke, seine Hand, die zum Wageninneren ausgestreckt ist.
Es sind Momente der Stille, schwer wie Blei. Dann erhebt sich ein Chor aus Pfiffen, Rufen, Schreien.
Naomi und ich sehen uns ratlos an.
»Kletter auf meine Schultern«, sagt sie.
»Nein, mach du.«
»Ich schaff das nicht. Bitte.«
»Okay.«
Sie beugt die Knie, und ich umklammere ihren Hals und schwinge mich auf ihre Schultern. Dann richtet sich Naomi wieder auf, so dass ich das Gewühl überrage.
Ich sehe Sarl. Er steht immer noch vor dem Auto und wartet darauf, dass sein Gefangener aussteigt.
Und da taucht ein Kopf auf. Kurze braune Haare wie bei Tausenden in der Stadt. Unwillkürlich halte ich die Luft an. Als ich sein Gesicht sehe, traue ich meinen Augen kaum: Er ist noch ein Junge!
Er hat ein Dutzendgesicht, aber nicht unhübsch. Seine Augen sind hell, und er fürchtet sich nicht, sie auf die sensationslüsterne Menge zu richten wie zwei schussbereite Gewehrläufe. Er ist ungefähr so groß wie der Kommissar und von kräftigem Körperbau, der sich muskulös unter seinen engen Jeans und dem beigen Sweatshirt abzeichnet. Die Hände hält er auf dem Rücken, wahrscheinlich sind sie mit Handschellen gefesselt. Er wirkt sehr ruhig, so als würde er zur Sonntagnachmittagsvorstellung ins Kino gehen.
Ich bin erleichtert: Es ist keiner von meinen Verfolgern, ich kenne ihn nicht, habe ihn noch nie gesehen.
»Sarl hatte recht«, entfährt es mir laut.
»Was passiert?«, will Naomi wissen.
»Der Mörder ist ausgestiegen.«
»Siehst du ihn?«
»Ja.«
»Ich will ihn auch sehen.«
»Aber du hast doch gesagt …«
»Ich weiß, aber jetzt will ich ihn sehen. Ich lass dich runter.«
Jetzt bin ich an der Reihe, als Leiter zu dienen.
Es kostet mich keinerlei Mühe, sie hochzuheben. Sie hat
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