Nacht
übertriebenen Interesse für seinen Unterricht – ich habe sie gestern nach Schulschluss in seinem Labor gesehen.«
»Und da sie ja immer behauptet, dass sie Jungs nicht ausstehen kann«, wirft Naomi ein, »steht sie vielleicht eher auf reifere Männer.«
»Dazu müsste man wissen, wie er darüber denkt.«
Wir grinsen, während sich unsere Mitschüler auf ihre Plätze begeben. Ich beobachte kurz, wie die Jungs ihre Rucksäcke hinter sich herschleifen und sich auf die Stühle fallen lassen, die kreischend über den Fußboden scharren. Ich schüttele den Kopf: »Ich muss zugeben, was die Jungs angeht, kann ich sie verstehen.«
»Wem sagst du das. Die wollen doch nur das eine von uns.«
»Außerdem sind sie tödlich langweilig«, erkläre ich. »Alle.«
»Alle außer … Morgan.« Diesmal provoziert Naomi mich.
Morgan. Morgan. Ich weiß noch nicht so recht, was ich von ihm halten soll. Etwas sagt mir, dass ich ihm besser aus dem Weg gehen sollte. Doch da ist auch eine unbekannte, entgegengesetzte Kraft, die mich auf ihn zutreibt.
»Bloß weil er im Vergleich zu den anderen ein bisschen geheimnisvoll und ein Einzelgänger ist, muss er noch nicht der richtige Typ für mich sein.«
»Einzelgänger? Ich weiß ja nicht.«
Ich sehe Naomi fragend an. »Was soll das denn heißen?«
»Meine Schwester Marti war gestern in dem neuen Schwimmbad, neben dem Einkaufszentrum, unten am Fluss …«
»Und?«
»Ratet mal, wer auch da war.«
»Mach’s nicht so spannend.«
»Adam und Morgan.«
Seline zuckt zusammen. Ich sehe, wie der Glanz in ihren Augen erlischt.
»Kapiert ihr? Morgan und Adam sind zusammen ins Schwimmbad gegangen«, fährt Naomi fort. »Das haut mich um.«
Mich nicht.
»Tatsächlich«, sage ich, »wenn ich mir’s recht überlege, habe ich sie gestern ebenfalls zusammen gesehen. Sie haben vor der Mensa miteinander gesprochen.«
Seline schweigt noch immer. Sie scheint zu einer Reise ohne Wiederkehr ins mentale Vakuum aufgebrochen zu sein. Ich will sie gerade fragen, wie es ihr geht, lasse es dann aber doch bleiben. Sie braucht keinen Babysitter, sondern jemanden, der ihr zeigt, wie man nach einem herben Schlag wieder aufsteht. Denn so ein Schlag kommt früher oder später, und man muss bereit sein, wenn man ihm schon nicht ausweichen kann, ihn wenigstens mit Würde zu ertragen.
»Warum hast du uns nichts davon erzählt?«
»Was gibt’s denn da zu erzählen? Dass der Junge, den wir uns vorgenommen haben, noch in der Lage ist, mit jemandem zu sprechen?«
»Ja, aber … Morgan …«, stammelt Seline.
Ich zucke die Achseln. »Morgan ist auch nicht anders als die anderen. Jungs sind eben so. Sie bilden ein Rudel. Sag mir Bescheid, Naomi, falls du noch mehr über diese merkwürdige neue Freundschaft hörst. Adam wird uns, glaube ich, keine Probleme mehr machen. Aber bei Morgan sollten wir aufpassen. Ich traue ihm nicht.«
Da ist etwas.
Irgendetwas, das mich abstößt und zugleich anzieht wie ein Magnet.
Nach der Schule verabreden wir uns zu unserer wöchentlichen »Sitzung«. Es funktioniert folgendermaßen: Wir treffen uns reihum zum Abendessen bei einer von uns zu Hause, mit vier Pizzas oder vier Dönern und essen erst mal in Ruhe. Dann schließen wir uns im Zimmer ein und berichten alles, was uns so passiert ist. Wir schmieden Pläne, besprechen die Taufanträge und versuchen, unserer Gruppe einen Sinn zu geben, bis wir schließlich einschlafen. Diese Woche wollen wir bei Agatha übernachten. Das haben wir bisher noch nie getan, wegen des Gesundheitszustands ihrer Tante.
»Ich kann heute Abend nicht«, teilt uns Agatha vorm Schultor aus heiterem Himmel mit.
»Wieso das denn?« Ich mag keine Planänderungen, vor allem nicht in letzter Minute.
»Meiner Tante geht es schlechter …«
»Das tut mir leid. Ich dachte, es ginge ihr besser.«
»Ich auch«, sagt Naomi.
»Nein, es geht ihr schlecht.«
Naomi wirkt misstrauisch.
Auch mir kommt langsam der Verdacht, dass die Krankheit der Tante nur eine Ausrede ist, um uns von ihrem Zuhause fernzuhalten. Aber warum?
»Brauchst du irgendwas?«
Seline ist wie immer nett.
»Nicht von dir.«
Agathas spitze Zunge kann so verletzend sein wie eine Messerklinge. Als sie Selines betroffenen Blick bemerkt, fügt sie, nicht ohne Selbstüberwindung, hinzu: »Danke.«
Ich beschließe, der Sache nicht weiter nachzugehen und im Zweifel zu Agathas Gunsten zu entscheiden.
»Wie du meinst. Wir können uns bei mir treffen«, schlage ich vor.
»Ich kann
Weitere Kostenlose Bücher