Nacht
Sorgen: erstens, dass eins der Mädels das Heft im Schrank findet, zweitens, dass ich in der Nacht wieder zu schreiben anfange.
Oder zu sprechen.
Oder zu schreien.
Leider kann ich nicht mehr tun, als zu hoffen, dass alles gutgeht.
Flüsternd, obwohl sonst niemand zu Hause ist, legen wir fest, auf wann wir die neuen Taufen verschieben, fügen eine neue Regel hinzu (die Kandidatin muss in unserer Anwesenheit irgendetwas Ekelhaftes essen, das wir bestimmen) und sprechen dann kurz über Agatha und ihre Situation. Etwas später klopft Jenna an die Tür, um hallo zu sagen. »Macht keinen Lärm mehr, Mädels! Lina schläft schon. Gute Nacht.«
Nachdem sie weg ist, erzählen wir uns ein paar harmlose Geschichten, die wir schon kennen und die nur den Zweck haben, uns schläfrig zu machen. Als ich das Licht ausknipse, höre ich die regelmäßigen Atemzüge von Seline und Naomi. Vertrauensvoll überlasse auch ich mich dem Schlaf, obwohl ich spüre, dass die enge Bindung zwischen uns dabei ist, sich zu lockern.
Als am Morgen der Wecker klingelt, schlage ich abrupt die Augen auf. Ich sehe mich um: keine Spur von dem violetten Heft, das vermutlich noch an seinem Platz im Schrank liegt, unter all den Sachen, die es verbergen.
Ich habe nichts geschrieben.
Ich habe nicht gesprochen.
Meine Freundinnen haben nichts entdeckt. Vielleicht, weil es nichts zu entdecken gibt. Abgesehen von einem fatalen Zufall. Einem Scherz. Einem gemeinen Scherz des Schicksals.
Ich lächele Seline zu, die sich übers Gesicht reibt wie ein Kätzchen, um wach zu werden.
Naomi grummelt, den Kopf unters Kissen gesteckt.
»Ein Scherz …«, murmele ich unschlüssig.
Und fange an, wirklich daran zu glauben.
[home]
Kapitel 11
I ch liebe es, mir morgens einen dampfenden Kaffee in der Bar hinterm Haus zu holen. Seit ich das mit dem ermordeten Werber gelesen habe, bin ich nicht mehr dort gewesen. Aber heute will ich versuchen, meinen Alptraum zu bezwingen, und zusammen mit Seline und Naomi gelingt mir das vielleicht. Hinterm Tresen steht derselbe Junge wie immer, der mich auch heute anlächelt. Ich bin gutgelaunt und lächele zurück.
»Du warst eine Weile nicht da.«
»Stimmt. Machst du mir einen Kaffee?«
»Sofort. Und für euch?«
Naomi nimmt einen Getreidekaffee. Seline verzichtet. Ich reiche das Geld für uns beide über den Tresen, aber diesmal berühren sich seine und meine Hände nicht. Beim Hinausgehen werfe ich einen Blick auf die Gratiszeitungen, die auf einem der Tische herumliegen. Die Nachricht von dem Mord ist nicht mehr auf der Titelseite. Ich sehe nicht nach, ob innen etwas darüber steht, ob es Neuigkeiten gibt.
»Alles in Ordnung?«
Naomi hat meinen Gesichtsausdruck bemerkt.
»Könnte nicht besser sein«, lüge ich.
Wir steigen ein paar Stationen vor der Schule aus dem Bus. Keine von uns hat Lust, pünktlich zu kommen. Es ist einer von diesen überaus seltenen Tagen, an denen der Himmel mehr blau ist als grau und der Regen einem mal nicht den Spaß am Draußensein verdirbt.
Wir spazieren durch das Stadtzentrum, alle drei nebeneinander, und reden über dies und das, als mein Blick an einem Schaufenster eines noch geschlossenen Geschäfts hängenbleibt. Es ist ein Schreibwarenladen. Der Schreibwarenladen, in dem ich mein violettes Heft gekauft habe.
Ich gehe langsamer, in Gedanken bei diesem Tag.
Damals regnete es in Strömen, und man sah kaum die Hand vor Augen zwischen den Spritzfontänen der vorbeiflitzenden Autos und dem aufs Pflaster prasselnden Wasser aus den überlaufenden Regenrinnen der Häuser. Und doch hatte etwas meine Aufmerksamkeit erregt: ein vollkommen violettes Schaufenster. Es gab Füller, Bleistifte, Mäppchen, Radiergummis, Schulhefte, Ordner, alles ausnahmslos in Violett. Meiner Lieblingsfarbe. Mein Heft stand aufrecht mittendrin. Es war aufgeschlagen und stützte sich auf seine elfenbeinfarbenen Seiten, glatt und dick. Der Einband schien aus Leder zu sein. Ich stand draußen im Regen und bewunderte es. Ich weiß nicht, warum, aber ich ging spontan hinein, um es zu kaufen.
Ich wurde vom schiefen Ton einer alten Klingel empfangen, der mich ins Ladeninnere führte, in das der Verkehrslärm nicht zu dringen schien. Das Geschäft war weder groß noch schön. Es war eher altmodisch, mit seinen Holzregalen, die kleine, niedrige Korridore bildeten. Beleuchtet wurde es von alten Glaslampen, die wie große Eier von der Decke hingen.
Der Verkäufer war ein ganz normaler Mann, normal groß, normal gebaut.
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