Nacht
ohne mir dessen bewusst zu sein, und dem, was in der Zeitung stand.
Ich bin stark, sage ich mir wieder und wieder. Wahrscheinlich war es nur ein makabrer Zufall. Vor dem Unfall war mir nie etwas Derartiges passiert. Und ich hoffe, das wird es auch nie wieder.
Ich bin sicher, dass es nie wieder passiert.
Ich lasse mich in einen Sessel im Wohnzimmer sinken, denselben, auf den sich Gad immer setzt. Sein Frittengeruch hängt in den Polstern, auf den Armlehnen, überall. Aber er beruhigt mich irgendwie. Ich mache für einen Moment die Augen zu und versuche, meinen Kopf von den tausend Gedanken freizubekommen, die auf mich einstürmen. Es ist so gut wie unmöglich. Manchmal habe ich das bedrückende Gefühl, dass mein Verstand an einen Generator angeschlossen ist, der für ununterbrochenen Betrieb sorgt. Das Ausschalten funktioniert nicht.
Das schrille Türklingeln lässt mich aufschrecken. Heutzutage haben alle analoge Klingeln oder so ein dezentes Ding-dong, aber Jenna will nichts davon wissen. Sie sagt, dass sie sich nur bei diesem Klang zu Hause fühlt. Mich wird er eines Tages noch ins Irrenhaus bringen.
Ich beeile mich, an die Tür zu kommen, damit meine Freundinnen nicht denken, ich hätte die Klingel nicht gehört. Naomi und Seline stehen vor der Tür. Ohne Agatha, wie angekündigt.
»Kommt rein.«
»Bist du allein?«
»Ich denke schon.«
Wir bestellen Pizza. Dann klingelt das Telefon. Es ist Jenna. Im Hintergrund höre ich das Geschrei von vielen Kindern.
»Wo seid ihr denn alle? Ach so, okay. Nein, ich habe mir keine Sorgen gemacht. Reine Neugier. Ja, Naomi und Seline sind hier. Bis später.«
»Deine Mutter?«
Seline hat ein enges Verhältnis zu ihren Eltern.
»Rätsel gelöst. Jenna und Lina sind auf einem Kindergeburtstag, bei einer Freundin meiner Schwester.«
»Und Evan?«
»Er wird mit seiner Band proben oder irgendwo mit Bi rumhängen, seiner Freundin.«
Naomi ist Bi mal begegnet, hat aber nicht mehr als ein paar Worte mit ihr gewechselt.
»Ein echt seltsames Paar.«
»Na, wenigstens hat er eine Freundin.«
Abgesehen von ihr und seiner Rockband, mit der er in einer alten Sporthalle spielt, hat mein Bruder keinen Umgang mit anderen Lebewesen.
Die Pizzas kommen, dampfend und köstlich.
Ich schneide meine in dreieckige Stücke, falte sie zusammen und esse mit den Händen. Naomi fängt in der Mitte an und kreiert eine Art Teigrand, während Seline lustlos hier und da ein Stückchen abschneidet.
»Hast du keinen Hunger?«
»Keinen großen, heute«, murmelt Seline, ohne den Blick zu heben.
»Nicht nur heute«, bemerkt Naomi.
»Was weißt du schon? Ich habe keinen Appetit und basta!«
Plötzlich kriegt sie einen Heulanfall. Sie steht auf und schließt sich im Bad ein.
»Was ist denn mit der los?«
»Heute hat so ein Idiot zu ihr gesagt, dass sie irre gutgebaute Beine hat. Anscheinend kursiert dieses Handyvideo immer noch. Keine Ahnung, wie viele es gesehen haben, aber Seline fühlt sich von tausend Augen verfolgt und hat sich neuerdings in den Kopf gesetzt, dass sie dick ist.«
»Was?«
»Genau.«
»Warum hast du mir nichts davon gesagt?«
»Ich sage es dir ja jetzt. Weil ich es auch erst seit kurzem weiß.«
»Dieser verdammte Adam!«
»Verdammter Mistkerl!«
Wir trinken einen Schluck Bier, die Augen auf die geschlossene Badezimmertür gerichtet. »Was sollen wir machen?«, fragt Naomi.
»Nichts«, sage ich. »Warten wir’s ab, und sorgen wir dafür, dass sie keine Dummheiten macht.«
Als Seline wieder aus dem Bad kommt, ist ihre Pizza eine kalte Plastikmasse.
»Soll ich sie dir im Backofen aufwärmen?«
»Nein danke, Alma. Mein Magen ist wie zugeschnürt. Ich esse sie morgen.«
»Wie du willst. Sollen wir mit der Sitzung beginnen?«
Wir gehen in mein Zimmer und lassen uns wie gewohnt auf den Betten nieder: Seline neben mir und Naomi auf das andere Bett beim Fenster. Wir haben diese Woche nicht viel zu besprechen, und jede von uns ist mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, die sie anscheinend nicht teilen will. Ich bin mir dessen bewusst, gebe mich jedoch genauso gleichgültig wie die anderen. Nachdem Seline wie eine x-beliebige Ware auf den Handys von Dutzenden von Jungen unserer Schule hin- und hergetauscht wurde, hält sie sich für dick. Naomi dagegen träumt von einer neuen Liebesgeschichte in den Armen eines Typen mit Mandelaugen und Pferdeschwanz.
Und ich? Woran denke ich, außer an mein violettes Heft und die Alpträume, die mich quälen? Zwei Dinge machen mir
Weitere Kostenlose Bücher