Nacht
trotzdem nicht kommen«, beharrt Agatha.
»Und ihr?«
In diesem Augenblick richten sich Naomis Augen auf etwas oder jemanden hinter mir. Ich drehe mich um und sehe einen Jungen, nicht sehr groß, der mir noch nie zuvor aufgefallen ist. Da bin ich sicher, denn er hat ungewöhnliche asiatische Züge und lange, glatte, dunkelblonde Haare, die zu einem ordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden sind.
Ein wirklich eigenartiger Typ. »Wer ist das?«
»Er heißt Tito.«
Naomi wirft ihm verstohlene Blicke zu. »Findet ihr ihn nicht auch göttlich?«
Seline mustert ihn ohne großes Interesse. »Woher kennst du den?«, fragt sie.
»Einer aus der Zehnten hat ihn mir vorgestellt.«
»Noch nie gesehen.«
»Er geht nicht auf unsere Schule.«
»Sondern?«
Naomi zuckt die Achseln. »Ich weiß nicht viel über ihn und seine Freunde, außer dass es sehr schwer ist, in ihre Clique aufgenommen zu werden.«
»Und was ist das für eine Clique?«
»Hm … Leute, die ein bisschen anders sind. Anscheinend sucht Tito selbst aus, wer dazugehören darf.«
»Und was macht er hier vor unserer Schule?«
»Ich glaube, er wartet auf diesen Freund aus der Zehnten.«
Ich lasse mir Naomis Worte durch den Kopf gehen. Was sie gesagt hat, gefällt mir nicht, genauso wenig wie mir geschlossene Gruppen gefallen, in denen einer allein willkürlich darüber bestimmt, wer dazugehören darf.
»Du denkst doch wohl nicht daran, dich mit ihm zu treffen, oder?«
Sie antwortet mir nicht gleich, bejaht aber dann meine Frage.
»Mach, was du für richtig hältst. Aber sei vorsichtig. Du weißt nichts über ihn.«
[home]
Kapitel 10
A ls ich nach Hause komme, ist die Wohnung verlassen.
»Jenna? Lina?«
Niemand antwortet.
Kein Licht, kein Geräusch. Die Zimmer liegen im Dunkeln, nur schwach beleuchtet von der Energiesparlampe, die in der Diele von der Decke hängt.
Ich habe ein seltsames Verhältnis zu meinem Zuhause, vor allem, wenn es leer ist. Manchmal gibt mir das ein Gefühl von Freiheit, dann wieder jagt es mir irgendwie Angst ein, als wäre ich dabei, alles zu verlieren, was ich habe. Genau so fühle ich mich im Moment.
Die Wohnung ist warm, der Geruch von Hähnchencurry hängt noch in der Luft. Jenna kocht das oft, weil es ein Gericht ist, mit dem alle einverstanden sind. Ich erinnere mich noch, wann sie es zum ersten Mal zubereitet hat, das war am Tag meiner Entlassung aus dem Krankenhaus. Ich hatte wegen einer Reihe von Kontrolluntersuchungen zur »Sicherheit« eine Woche dortbleiben müssen – nach dem Unfall, bei dem Dolly und Maureen, zwei Freundinnen aus meiner Kindheit, ums Leben gekommen waren. Es war grauenvoll. Es war Maureens Auto, ihr erstes Auto, ihre erste Spritztour mit den Freundinnen. Dolly saß auf dem Beifahrersitz, und als der Wagen gegen den dicken Pfeiler knallte, wurde sie zehn Meter weit hinausgeschleudert. Maureen war über dem Lenkrad zusammengebrochen, mit vor Furcht aufgerissenen Augen und einer klaffenden Wunde im Gesicht.
Ich dagegen war praktisch unversehrt davongekommen, abgesehen von einer kleinen Narbe unter dem rechten Ohr, die niemandem auffällt.
Nach dem Unfall hatte Jenna darauf bestanden, mich für eine Therapiegruppe anzumelden, im Stil der Anonymen Alkoholiker, Kriegsveteranen, Überlebenden von Flugzeugkatastrophen oder anderen Traumata-Gruppen, in denen sie dich zum Reden bringen, bis du anfängst zu heulen. Ich habe mich mit allen Kräften dagegen gewehrt, und schließlich haben Jenna und ich einen Kompromiss geschlossen. Einen Kompromiss namens Doktor Mahl, ein auf traumatische Erlebnisse bei Heranwachsenden spezialisierter Arzt. Ich habe ein paar Sitzungen bei ihm absolviert, bevor auch er kapiert hat, dass ich kein bisschen traumatisiert war. Mir fehlten natürlich meine Freundinnen. Und ich fand es absurd, dass sie auf diese Weise hatten sterben müssen. Aber ich schätzte mich sehr glücklich, noch am Leben zu sein, und hatte – obwohl das alle von mir zu erwarten schienen – keinerlei Schuldgefühle, weil ich unbeschadet aus diesem Blechhaufen herausgekommen war.
Es ist unglaublich, wie sehr die Leute dazu neigen, Probleme zu sehen, wo keine sind. Wenn du einen Unfall hattest, musst du zwangsläufig einen Schaden davontragen. Wenn es einen Todesfall in deiner Familie gab, musst du am Boden zerstört sein. Aber so funktioniert das nicht, wenn man einigermaßen stark ist. Und das bin ich.
Ich bin stark, auch wenn ich Angst habe wegen der Zeilen, die ich geschrieben habe,
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