Nacht
Er hatte helle Haut, weiße Haare und blaue Augen. Er erinnerte mich an einen alten Engel, den ich mal auf einem Theaterplakat gesehen hatte. Sein Alter war unbestimmbar, und seine Art, mich anzusehen, sehr ungewöhnlich, geduldig und neugierig zugleich. Ich fühlte mich sofort wohl in seinem Laden. Er musterte mich ruhig.
»Guten Tag, junge Dame. Kann ich etwas für Sie tun?«, fragte er und deutete auf meinen Schirm, von dem unablässig Wasser auf den dunklen Holzfußboden tropfte.
Dabei wirkte er weder verärgert noch drängend. Außerdem hatte mich noch nie jemand »junge Dame« genannt. Das gefiel mir nicht schlecht. Ich hätte gern etwas mehr über die guten alten Konversationsregeln gewusst, um ihm genauso gelassen und formvollendet antworten zu können, aber ich fand nicht die richtigen Worte. Also beschränkte ich mich auf das Wesentliche.
»Ich würde gern das Heft im Schaufenster sehen.«
»Gewiss.«
Der alte Engel holte es heraus, indem er ein Paneel zur Seite schob, und legte es dann behutsam auf den Ladentisch im hinteren Bereich.
Ich fuhr mit dem Finger über das violette Leder des Einbands.
»Ich nehme es«, entschied ich, ohne auch nur nach dem Preis zu fragen.
»Sehr gern, junge Dame. Ist es ein Geschenk? Soll ich es für Sie einpacken oder …«
»Nein, nein«, antwortete ich geradezu hastig. »Es ist für mich.«
»Was guckst du?«, fragt mich Seline.
»Nichts. Warum?«
»Du scheinst ziemlich abwesend zu sein.«
Ich schaue noch einmal zum Schaufenster, zu seinem heruntergelassenen Rollladen, und frage mich, wann der alte Engel den Laden wohl aufmachen wird, und ob er überhaupt heute öffnet oder vielleicht nur an Regentagen. Oder nur, wenn ich daran vorbeigehe.
»Wir sollten uns jetzt lieber beeilen, sonst kommen wir noch zu spät«, sage ich und verscheuche die Gedanken aus meinem Kopf.
»Wir sind schon zu spät«, bemerkt Naomi.
Wir gehen schneller.
Niemand achtet auf unser Zuspätkommen. Die Türen der Klassenzimmer stehen alle auf, die Schüler sind zur Hälfte drinnen und zur Hälfte draußen wie in der Pause. Brandgeruch hängt in der Luft, aber von einem Brand ist nirgends etwas zu sehen. Was ist hier eigentlich los?
»Wie spät ist es?«, frage ich.
Ich trage nie eine Uhr. Es gibt immer jemanden, den man fragen kann.
»Schon halb neun! Wahnsinn!« Naomi sieht auf ihre Armbanduhr, perplex, dass es so spät ist.
Vor dem Büro des Direktors steht ein Polizist und mustert die Vorbeigehenden mit dem typischen Ausdruck von jemandem, der einen Schuldigen sucht. Als sein Blick mich streift, durchläuft mich ein Frösteln. Unsinn, versichere ich mir selbst. Ich habe nichts getan. Er ist nicht meinetwegen hier.
»Aber … was ist denn hier los?«, frage ich stattdessen.
»Jemand hat das Büro von Scrooge auseinandergenommen«, sagt ein Junge hinter mir.
»Machst du Witze?«
»Nein.«
»Von Scrooge?«
»Sag ich doch.«
Scrooge ist unser Schulleiter, ein vertrockneter, einsamer Junggeselle, der sich nur für seine Arbeit interessiert, weil er sonst nichts kann. Er heißt natürlich nicht wirklich so, aber seit ein paar ältere Schüler ihm den Namen des unsympathischen Helden einer berühmten Erzählung angehängt haben, ist er ihn nicht mehr losgeworden. Manche behaupten sogar, Scrooge sei ursprünglich der Spitzname für den alten Direktor gewesen, seinen Vorgänger, der genauso war wie er, nur viel älter.
Ich frage den Jungen nach Einzelheiten.
»Sieht aus, als wäre jemand gestern Nacht in Scrooges Büro eingedrungen und hätte ein Schlachtfeld daraus gemacht. Die Wände sind beschmiert, ein Teil des Archivs ist zerstört, und seinen Schreibtisch hat man in Brand gesteckt.«
»Und dabei riskiert, die ganze Schule abzufackeln!« Naomi ist entsetzt.
»Die Feuerwehr ist gerade wieder weg«, fügt der Junge hinzu. »Sie haben das halbe Erdgeschoss unter Wasser gesetzt.«
»Eine irre Geschichte«, kommentiert Naomi und bahnt sich einen Weg durch die anderen Neugierigen.
»Und keiner weiß, wer es war?«, frage ich.
»Irgendeine Bande, wahrscheinlich.«
»Wie hat Scrooge reagiert?«
»Wie üblich.«
»Er wird uns alle in unsere Klassen einsperren, bis der Schuldige sich meldet?«
Der Junge lacht nervös. »Etwas in der Art, schätze ich.«
In dem Moment taucht Agatha auf. Ihre Ohrstöpsel stecken fest in den Ohren, aber man hört den Hardrock trotzdem gut. Sie sieht sich um, um zu begreifen, was los ist, entdeckt mich und kommt herüber. Sie nimmt
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