Nacht
scheint einem Roman aus dem neunzehnten Jahrhundert entstiegen zu sein.
»Na, hast du ihn in die Flucht getrieben?«, fragt Naomi, die mit einem Fruchtsaft in einem Pappwürfel zu mir kommt.
»Wovon redest du?«
»Morgan.«
»Er war nicht meinetwegen hier.«
»Ach nein? Wegen wem sonst? Sah mir nicht so aus, als hätte er noch mit jemand anderem geredet.«
Morgan hat behauptet, auf jemanden zu warten. Dann hat er mich auf einen Kakao eingeladen.
Kann es sein, dass …
Ich suche ihn erneut mit den Augen, kann ihn aber nicht mehr ausfindig machen. Ich weiß nicht, wohin er gegangen ist. Ich weiß nicht, woher er kommt.
Ich weiß nichts über ihn. Und vielleicht interessiert es mich auch nicht.
Bevor ich die Schule nach Unterrichtsschluss verlasse, gehe ich auf einen Sprung zur Toilette und treffe dort auf Agatha. Sie raucht.
»Wusste gar nicht, dass du rauchst.«
»Hin und wieder.«
Sie hört sich an, als wäre sie nicht gerade froh, mich zu sehen. Ich frage mich nur, warum sie auf der Toilette raucht, wo es doch draußen niemanden gibt, der sie deswegen maßregeln kann.
»Möchtest du einen Zug?«
»Nein, ich find das eklig.«
Zigaretten sorgen für schlechten Atem und schlechte Zähne. Agathas Zähne sind sowieso schon hässlich, aber ich lege viel Wert auf meine. Ich habe keine einzige Karies und bin stolz darauf.
Ich wasche mir die Hände mit viel Seife, wie ich es gern tue. Agatha starrt zum Fenster hinaus, eingehüllt in Qualmwolken und vollkommen in ihre Gedanken versunken. Das Papierhandtuch aus dem Spender fällt mir auf den Fußboden aus grauen, mit schwarzen Flecken überkrusteten Fliesen. Als ich mich danach bücke, sehe ich etwas aus dem offenen Reißverschluss von Agathas Rucksack ragen. Ich sehe genauer hin. Es ist eine Spritze.
Als Agatha bemerkt, dass ich sie entdeckt habe, nimmt sie sofort ihren Rucksack, drückt die Kippe im Waschbecken aus und zieht den Reißverschluss zu.
»Du hast doch nicht etwa irgendwelchen Unfug vor?«, frage ich.
»Die ist für meine Tante. Sie braucht jeden Abend eine Injektion.«
Ich beschließe, ihr zu glauben, auch wenn Agatha in letzter Zeit immer seltsamer wird.
Wir verlassen gemeinsam das Schulgebäude. Die anderen beiden sind schon weg. Agatha schließt ihr altes Rennrad von einem Pfahl los, und ich gehe zur Bushaltestelle.
»Tschüss«, sagen wir, ehe wir uns voneinander entfernen, jede in Richtung ihres Zuhauses und der Probleme, die dort warten.
Auf dem Weg zur Bushaltestelle begegne ich erneut Morgan. Er geht langsam, eingemummelt in eine Winterjacke aus schwerem Wollstoff, dunkelblau, wie ein nächtlicher Fluss. Er dreht sich nach mir um und lächelt. Seinen Mund kann ich nicht sehen, er ist von einem Schal verdeckt, der sich wie eine Boa um seinen Hals schlingt, aber die Sprache seiner Augen ist eindeutig: Kontakt.
Ein Prickeln läuft mir über den Rücken. Es steigt von den Beinen auf und wandert schnell hoch bis zum Kopf, wo es ein Stechen hervorruft, heftig und kurz. Ich schließe sofort die Augen, um den Schmerz zu lindern. Als ich sie wieder öffne, ist Morgan noch da, genauso wie das Prickeln unter meiner Haut, das jetzt droht, noch tiefer zu gehen.
Er schiebt mit einer sachten Bewegung den Schal von seinem Mund. »Kann ich dich ein Stück begleiten?«
»Ich nehme den Bus.«
Er zeigt auf die etwa hundert Schritt vor uns liegende Haltestelle. »Kann ich dich bis zum Bus begleiten?«
Ich sage weder ja noch nein. Wir gehen nebeneinanderher.
Ich verstehe nicht, warum er heute so hartnäckig ist. Vielleicht ist er auch nur einer von diesen Affärenjägern, die eine Weile um dich herumschwirren und dann, wenn sie merken, dass du nicht nachgibst, zur nächsten Beute übergehen.
»Wie bist du dazu gekommen?«
»Was?«
»Zu der Narbe da unterm Ohr.« Er deutet auf die kaum sichtbare Stelle unter meinen Haaren.
Ich lächele.
»Warum lächelst du?«
»Weil es komisch ist.«
»Was?«
»Dass sie dir aufgefallen ist.«
»Warum?«
»Weil keiner außer dir sie je bemerkt hat.«
Er drückt sein Kinn in den Schal. Meine Antwort scheint ihn zu freuen, obwohl es nicht meine Absicht war, ihm ein Kompliment zu machen.
Wir gehen im Gleichschritt den Bürgersteig entlang.
»Hattest du einen Unfall?«
»Woher weißt du das?«
»Ich weiß es nicht, war nur eine Vermutung.«
Seine Vermutung gefällt mir nicht. Im Gegenteil, sie erschreckt mich beinahe.
»Ja, ich hatte einen Autounfall. Aber wie du siehst, ich bin
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