Nacht
davongekommen.«
Ich streiche die Haare hinters Ohr, damit man die Narbe besser sieht.
»Und die anderen?«
Morgan kommt näher. Er streckt die Hand aus und streicht mit einem Finger über meine Narbe. Es brennt wie Benzin in einer Wunde.
Ich sehe ihn an.
»Die anderen sind tot«, sage ich und füge im selben Atemzug hinzu: »Es waren zwei Freundinnen, die ich von klein auf kannte.«
Er schiebt seinen Schal wieder beiseite, knöpft die Jacke auf und zieht den Kragen seines Pullovers herunter. Seine Haut ist hell und makellos, aber am Halsansatz hat er ebenfalls eine Narbe. Auch ohne sie zu berühren, könnte ich schwören, dass sie sich glatt und kühl anfühlt, genau wie meine. Ich sehe die Narbe an und bin sprachlos.
»Ich hatte auch einen Unfall. Vielleicht habe ich deswegen einen Blick für Narben.«
Er lacht allein über seinen Spruch.
Dann bedeckt er sich wieder, und alles verschwindet, verborgen vom Mitternachtsblau seiner Jacke.
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Kapitel 13
W ochenende.
Alle warten immer so begierig darauf, egal ob sie zur Schule gehen, studieren oder arbeiten. Ich kann nichts Großartiges daran finden. Gewöhnlich passiert rein gar nichts an diesen beiden Tagen, an denen sich die halbe Welt wie besessen all dem widmet, wozu sie während der Woche nicht gekommen ist.
Jenna hat, wie so oft samstags, Dienst im Krankenhaus. Gad wird heute Abend bei uns mit irgendeiner frittierten Köstlichkeit erscheinen, die ihnen schwer im Magen liegen, aber ihre Stimmung heben wird. Evan ist schon in seine alte, übelriechende Turnhalle verschwunden, in der er bis zum Morgengrauen mit seiner Band spielen wird. Sie gehört dem Onkel von Bi, er überlässt ihnen die Halle gegen gelegentliche Hilfe beim Entladen der Ware für seine Eisenwarenhandlung. Ich dagegen bin hier, zu Hause, mit der kleinen Lina und ihrem schweigenden Universum.
Ich räume mein Zimmer auf, soweit das überhaupt geht. Beim Aufhängen der schwarzen Jacke, die ich anhatte, als wir Adam auflauerten, höre ich das Bimmeln eines Glöckchens. Aus einer der Taschen hole ich Linas Glücksbringer hervor. Ich halte ihn zwischen den Fingern und schüttele ihn. Er verursacht einen Klang, der in Miniatur dem von echten Glocken ähnelt. Jenna hat mir mal erzählt, dass sie, als Lina noch ein Baby war, das Glöckchen nur an ihrem Ohr zu läuten brauchte, um sie zu beruhigen. Auch heute noch hat es diese Wirkung auf sie. Es heißt, dass Menschen eine Form von unbewusster Erinnerung an ihre ersten Lebensmonate bewahren, und Linas Glöckchen ist dafür ein handfester Beleg. Ich habe keinen solchen Gegenstand. In meinem Fall ist da nichts als Dunkelheit. Es gibt nichts, was mich an meine Kindheit erinnert.
Ich ziehe eine Schublade auf, um einen Platz für das Glöckchen zu finden, als das Telefon klingelt.
Es ist Naomi.
Sie schreit.
»Beruhige dich, ich verstehe kein Wort!«
Doch Naomi schreit weiter.
»Was ist? Seline? Im Krankenhaus? Wann denn? Ich komme!«
Ich lege auf, schnappe mir meine Jacke und stürze ins Wohnzimmer, wo Lina einen Zeichentrickfilm sieht.
»Lina, ich muss weg. Es ist ein Notfall. Sei brav und rühr dich nicht vom Fleck. Ich bin bald wieder da.«
Sie sieht mich mit ihren dunklen Augen an, die so voller unausgesprochener Gedanken sind, und lächelt. Sie ist es, die mich beruhigt.
Ich gehe zu ihr, um die Wolldecke über ihren Beinen zurechtzuziehen, und merke erst in diesem Moment, dass ich den bimmelnden Anhänger noch in der Hand halte. Sie hört ihn und ist glücklich, weil ich ihr Geschenk bei mir trage. Ganz unvermittelt drückt sie mir mit ihren feinen, zarten Lippen einen Kuss auf die Wange. Ich bin starr vor Überraschung, normalerweise erlaube ich niemandem, mich zu küssen. Ich mag keinen Körperkontakt. Ein Ring aus Wärme bildet sich auf meiner Backe und breitet sich über das ganze Gesicht aus, entspannt meine Wangenmuskeln.
Dann spüre ich plötzlich einen stechenden Kopfschmerz. Einen heftigen Schmerz. Ich setze mich neben Lina aufs Sofa, die Augen geschlossen.
Sie rüttelt mich am Arm.
Es geht gleich vorbei.
Es geht vorbei.
Es ist vorbei.
»Ich muss los«, sage ich und schlage die Augen auf. »Es war nichts. Bin bald zurück.«
Wenn mich jemand fragen würde, wie ich mir die Hölle vorstelle, würde ich sie als Notaufnahme eines Krankenhauses beschreiben.
Wir alle sind hier, sitzend und leidend und darauf wartend, dass die Reihe an uns ist. Einer hält sich den Arm, ein anderer hat einen blutgetränkten Verband
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