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Nacht

Nacht

Titel: Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Melodia
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überm Gesicht. Wir warten, während die Krankenbahren mit den Schwerverletzten an uns vorüberziehen, weil sie den Vorrang haben im Kampf gegen das Schicksal. Man wird nicht in der Reihenfolge der Ankunft behandelt, sondern danach, wie ernst der Zustand ist. Die Entscheidung trifft eine Triage-Schwester, die dafür ausgebildet ist, jeden Patienten mit einem Farbcode zu versehen. Weiß: keine Dringlichkeit. Grün: keine lebensgefährliche Verletzung, kann auf Behandlung warten. Gelb: dringend, partielle Gefährdung der Organfunktionen, jedoch keine akute Lebensgefahr. Und schließlich Rot: Notfall, mindestens eine lebenswichtige Funktion (Atmung, Herzschlag und so weiter) beeinträchtigt und akute Lebensgefahr. Eigentlich gibt es noch zwei weitere Farben: Orange für Seuchenpatienten und Schwarz. Patient verstorben.
    Die Notaufnahme ist ein Meer aus müden, blassen, verängstigten Gesichtern. Es besteht kaum ein Unterschied zwischen Ärzten und Patienten. Mitten unter ihnen entdecke ich Naomi.
    »Was ist passiert?«
    »Na endlich! Seline geht es schlecht.«
    »Was heißt das?«
    »Wir waren aus, im BabyBlue, und haben ein Bier getrunken. Da ist sie plötzlich umgekippt und einfach nicht wieder zu sich gekommen.«
    »Hatte sie irgendwas genommen?«
    »Nein, gar nichts! Und ich schätze, genau das ist das Problem. Ich glaube, sie hat seit Tagen nichts gegessen.«
    »Wenn sie auf leeren Magen getrunken hat, ist es allerdings kein Wunder, dass ihr schwindelig wurde.«
    »Alma … ich fürchte, dass Seline mittlerweile ein ernstes Problem mit dem Essen hat.«
    Mit einem Schlag ist mir alles klar. Ich sehe Selines angewiderte Grimasse in der Schulkantine vor mir und beim Pizzaessen neulich abends, ich denke an all das, was sie gesagt hat, über den Handyfilm und die peinliche Figur, die sie ihrer Meinung nach vor der ganzen Schule abgegeben hat.
    »Wo ist sie jetzt?«
    »Sie haben sie nach dahinten gebracht«, sagt Naomi und zeigt auf einen Korridor zu ihrer Rechten.
    »Welche Farbe haben sie ihr gegeben?«
    Naomi schüttelt den Kopf. Sie weiß es nicht.
    »Also dann, warten wir.«
    Wenig später treffen auch Selines Eltern ein. Selines Mutter ist eine ziemlich hässliche Frau, eher klein, mit kurzen, dunklen Haaren. Ihre Augen sind groß, wie bei einer Kuh, aber freundlich. Sie ist es, die von den beiden den richtig guten Job hat. Der Vater dagegen ist ein eleganter und leicht exzentrischer Typ, so einer, dem man zutraut, dass er die Schulfreundinnen seiner Tochter anbaggert. Er hat immer eine lustige Geschichte parat und ein tadelloses Lächeln mit zweiunddreißig schneeweißen Zähnen. Keine von uns hat bisher verstanden, was er beruflich macht. Er ist groß und schlank, hat kurze, graumelierte Haare und das glatte Gesicht eines Jünglings. Die Art, wie er sich bewegt, lässt erkennen, dass er viel von sich selbst hält und nichts von seiner Frau.
    Beide wirken besorgt, besonders die Mutter. Er wirft mir einen wohlgefälligen Blick zu und wendet sich dann an Naomi.
    »Wie geht es ihr? Was ist passiert?«
    Naomi erklärt erneut, was vorgefallen ist, das eine oder andere unpassende Detail auslassend. Selines Mutter schlägt die Hände über dem Kopf zusammen, während der Vater bei der Triage-Schwester anklopft, um sich nach seiner Tochter zu erkundigen.
    »Aber wie ist das möglich?«, wiederholt die Mutter immer wieder.
    Neben ihr bleibe ich kalt wie Eis. Ich weiß, dass Seline sehr an ihren Eltern hängt, die sie verwöhnen und ihr jeden Wunsch erfüllen. Doch anscheinend genügt nicht einmal das, um sich richtig zu kennen und zu verstehen. Was weiß der Vater schon von dem, was im Leben seiner Tochter geschieht? Und die Mutter, die ganz in ihrem Beruf aufgeht, aber offenbar unfähig ist, die wirklich wichtigen Dinge im Leben zu meistern – was würde sie sagen, wenn sie wüsste, dass in unserer Schule ein Film mit ihrer halbnackten Tochter kursiert?
    Ich betrachte die beiden, Vater und Mutter, und sehe nur ein Gefängnis aus Konventionen und aufgesetzten Gefühlen. Was für ein Glück, dass ich mich noch nie verliebt habe.
    Kurz darauf kommt ein Arzt zu uns. Er hat einen sehr nachdenklichen Blick und ein Krankenblatt voller Zahlen in der Hand.
    »Sind Sie Verwandte von Seline?«
    »Ich bin der Vater. Das ist ihre Mutter. Diese beiden sind … Schulfreundinnen.«
    »Wie geht es ihr?«, fragt die Mutter sofort.
    »Besser inzwischen. Sie ist stabil.«
    »Aber wie …«
    »Sie hat es mit dem Alkohol übertrieben und

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