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Nacht

Nacht

Titel: Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Melodia
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außerdem … isst Ihre Tochter eigentlich genug?«
    Selines Eltern sehen sich verwundert an. Die Mutter schwankt.
    Ich verhalte mich ruhig und zwinge Naomi mit einem Blick, das Gleiche zu tun.
    »Ja, ich denke schon«, antwortet der Vater. »Warum fragen Sie?«
    Sie haben keine Ahnung. Sie haben nichts mitbekommen.
    »Weil sie in der Tat sehr mager ist und die Blutuntersuchung auf eine schwere Anämie hinweist.«
    »Was bedeutet das?«
    »Dass sie seit Tagen nichts gegessen hat.«
    Der Vater fährt abrupt herum und sieht mich an. »Mädchen?«, fragt er, als würde er uns anklagen wollen.
    »Was sollen wir sagen?«, antworte ich. »Uns ist nichts Ungewöhnliches aufgefallen.«
    Naomi, wenig überzeugt, nickt neben mir. Selines Eltern wechseln zweifelnde Blicke.
    Der Arzt hüstelt. »In jedem Fall … versuchen Sie, bestmöglich auf sie zu achten. Die Verweigerung von Nahrung ist bei Jugendlichen oftmals ein Hilferuf.«
    »Ich verstehe nicht …«, platzt der Vater verärgert heraus. »Seline braucht keine Hilfe. Wir geben ihr immer alles, was sie braucht.«
    Der Arzt sieht auf seine Unterlagen, zieht eine Visitenkarte aus dem Krankenblatt hervor und gibt sie Selines Mutter. »Wenn Sie feststellen, dass Ihre Tochter weiterhin nicht genug isst, könnte vielleicht eine therapeutische Behandlung sinnvoll sein …«
    »Was haben Sie ihr da gegeben?«, will der Vater wissen.
    »Die Adresse eines Beratungszentrums für Mädchen, die an Anorexie leiden.«
    »Meine Tochter ist nicht magersüchtig!«, tobt der Vater.
    »Kann ich sie sehen?«, fragt dagegen die Mutter. Sie ist ruhiger und hat den Ernst der Lage erkannt.
    »Natürlich, hier entlang, bitte. Wir haben ihr ein Beruhigungsmittel gegeben«, antwortet der Arzt mit schiefem Lächeln.
    »So ein Schwachsinn«, braust der Vater auf und stürmt los, ohne sich von uns zu verabschieden. Unbeweglich wie zwei Möbelstücke bleiben Naomi und ich im Hin und Her der Bahren zurück, inmitten von stöhnenden, mehr oder weniger schwer Verletzten.
    Wir setzen uns in eine Ecke. Es riecht nach Desinfektionsmitteln und Schweiß.
    »Gehen wir?«, fragt Naomi schließlich.
    »Ist wohl besser. Ich denke, ich werde Seline morgen zu Hause besuchen, wenn sie entlassen wurde. Kommst du mit?«
    »Ich kann nicht. Ich habe meiner Schwester versprochen, mit ihr ins Einkaufszentrum zu gehen.«
    Ich sehe sie vorwurfsvoll an.
    »Sie muss zu einer wichtigen Party und will, dass ich sie wegen des Kleids berate. Ich kann sie nicht im Stich lassen.«
    »Verstehe. Dann gehe ich eben allein.«
    Vielleicht ist es besser so. Seline kann jetzt kein Durcheinander gebrauchen, sie muss erst mal zu sich selbst zurückfinden.
    Aus dem Augenwinkel sehen wir die Eltern gemeinsam hinausgehen.
    »Es hat sich angehört, als würden sie von einem Alien sprechen und nicht von ihrer Tochter«, bemerkt Naomi nach einer Weile.
    »Die Eltern sind die Aliens.«
    Selines Mutter wird jetzt an die vielen Stunden denken, die sie im Büro verbracht hat, statt sie ihrer Tochter zu widmen. An das Geld, das sie verdienen muss, um die Extravaganzen ihres Mannes und seine tadellosen Anzüge zu finanzieren. An ihren teuren Sportwagen. Und vielleicht, also vielleicht, fragt sie sich endlich auch, ob das alles einen Sinn hat, wenn ihr dabei sogar entgeht, dass ihre Tochter seit Tagen nichts gegessen hat.
    Um uns herum sind lauter Menschen, die sich fremd sind, und nur dieser Ort mehr oder minder schweren Leids hat die ungewöhnliche Macht, sie einander näherzubringen.

[home]
    Kapitel 14
    S onntag.
    Ich stehe früh auf. Ich will Seline besuchen. Als Jenna mich um neun Uhr schon auf den Beinen sieht, traut sie ihren Augen nicht. Wenn sie wüsste, wie qualvoll das Schlafen in letzter Zeit für mich ist.
    »Wieso bist du denn schon auf?«, fragt sie mich in der Küche, eine Tasse mit frischem Kaffee in den Händen. Ich sehe sie an. Unter ihrem hellblauen, knöchellangen Morgenrock lugen zwei Hausschuhe hervor, es sind Hundegesichter, komplett mit Ohren, Nasen und Augen. Ein Weihnachtsgeschenk von mir, Lina und Evan. Ich muss grinsen, als ich an ihr verblüfftes Gesicht beim Auspacken denke. Die kleine Lina hatte so viel Spaß dabei, dass wir für einen Moment glaubten, gleich ihre Stimme zu hören.
    »Ich gehe zu Seline.«
    »Am Sonntag, um diese Zeit?«
    »Ich habe ihr versprochen, dass wir zusammen lernen.«
    Jenna wirkt überrascht. Derweil mache ich mir einen Kaffee.
    »Fleißige Mädchen«, sagt sie schließlich und verschwindet

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