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Nacht

Nacht

Titel: Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Melodia
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ins Wohnzimmer.
    Die Ellbogen auf den Tisch gestützt, schlürfe ich in aller Ruhe den dunklen, kochend heißen Nektar aus meiner Tasse.
    Ich denke an Seline und die Sache mit Adam. Warum verhalten sich Menschen so gemein? Woher kommt dieser Drang, anderen weh zu tun?
     
    Seline wohnt in einem modernen Wolkenkratzer, dem höchsten der drei Wohnhäuser, die vor rund zehn Jahren am Flussufer erbaut wurden. Die riesigen Glas- und Fensterflächen liefern ein getreues Spiegelbild der umliegenden Landschaft aus Wasser, Grünflächen und noch mehr Glas, ohne die Privatsphäre der Glücklichen, die dort wohnen, preiszugeben.
    Ich drücke auf die Klingel an der Sprechanlage neben dem Eingang. Ein elektrischer Summer lässt das große Glasportal aufspringen. Ich gehe hinein und rufe den Aufzug. Die weitläufige Eingangshalle ist mit weißem Marmor ausgelegt, den eine Bahn aus schwarzem Teppichboden in der Mitte teilt. Zu beiden Seiten bieten zwei rechteckige lange Blumenkästen den Eintretenden eine Blütenpracht dar, die so üppig und farbenprächtig ist, dass ich näher herangehe, um sie anzufassen und mich zu vergewissern, dass sie echt sind. Es duftet nach Lavendel und Jasmin. Vermutlich kommt das von dem Putzmittel, mit dem der Fußboden gereinigt wird.
    Der Aufzug kommt und öffnet weit seine glänzenden, schwarzen Spiegeltüren. Drinnen begleitet mich eine nichtssagende, aber entspannende Musik bis hinauf in den obersten Stock, in dem sich das Penthouse von Selines Familie befindet.
    Einmal habe ich Seline gefragt, warum sie auf unsere Schule geht, die doch sehr bescheiden ist im Vergleich zu dem, was ihre wohlhabenden Eltern ihr ermöglichen könnten. Sie hat geantwortet, ihre Mutter bestehe darauf, dass sie unter »normalen« Menschen aufwächst und nicht unter Privilegierten, da sich im Leben alles von einem Moment auf den anderen ändern kann und ein goldener Palast einen nicht auf das Schlimmste vorbereitet. Jetzt jedoch, nach dem, was ihrer Tochter zugestoßen ist, bin ich nicht sicher, ob ihre Entscheidung richtig war.
    Die Wohnungstür steht offen. Seline empfängt mich in einem babyrosa Hausanzug, der um ihren immer magereren und eckigeren Körper schlottert.
    »Hallo, Alma.«
    »Hallo.«
    Wir gehen hinein. Parkettboden aus dunklem Holz und ringsum Fenster. Viel Licht. Trotz des grauen Himmels.
    »Komm, gehen wir in mein Zimmer.«
    »Sind deine Eltern nicht da?«
    »Meine Mutter arbeitet in ihrem Arbeitszimmer, und mein Vater schläft noch.«
    Wir gehen durch einen Flur, dessen Wände mit Bildern von verschiedener Größe bedeckt sind und der von einer Reihe in die Decke eingelassener Strahler beleuchtet wird. Auf dem Boden ein Teppich mit einem rot-weißen geometrischen Muster, der länger ist als unsere ganze Wohnung. Ich sehe mich um. Es ist nicht das erste Mal, dass ich hier bin, aber so viel Luxus verblüfft mich immer wieder.
    Die erste Tür rechts ist die zu Selines Zimmer. Es ist sehr groß; ein französisches Bett, ein Schreibtisch aus Glas, ein kleiner Beistelltisch, eine Couch und zwei Sessel gegenüber einer breiten Balkontür mit atemberaubendem Panoramablick.
    »Setz dich schon mal«, sagt sie. »Ich hole uns noch was zum Knabbern.«
    Ich lasse mich auf dem rosa-weiß karierten Sofa nieder und betrachte Selines Zimmer, die hellrosa Wände, die mit ein paar Bildern geschmückt sind. Eines davon ist ein Porträt von Seline als kleines Mädchen in einem gelbgeblümten Kleid und mit einem Band im Haar. Sie sieht aus wie eine Porzellanpuppe.
    Nach ein paar Minuten kommt sie zurück. Sie hat noch immer dieses Engelsgesicht wie auf dem Bild, doch ihre Augen haben ihr Leuchten verloren.
    Sie trägt ein Tablett mit zwei Gläsern, einer Karaffe mit frisch gepresstem Saft, Keksen und einem Stück Schokoladenkuchen. Sie stellt alles auf dem Tischchen ab und setzt sich in einen der Sessel.
    »Wie fühlst du dich?«, frage ich, während ich mir ein Glas Saft einschenke. Er ist süß und frisch, einfach köstlich. Ich schnappe mir auch einen Keks und schiebe ihn zwischen die Zähne.
    »So einigermaßen. Ich bin noch ein bisschen müde, aber das geht vorbei.«
    »Klar geht das vorbei.«
    »Danke für gestern.«
    »Nicht der Rede wert.«
    Sie senkt den Blick. Rührt nichts von dem Tablett an.
    »Isst du nichts?«
    »Ich habe gerade erst gefrühstückt.«
    »Ehrlich?«
    »Ja, keine Sorge. Meine Mutter war die ganze Zeit bei mir in der Küche, um mich zu überwachen.«
    »Recht hat sie. Du musst wieder auf die

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