Nacht
Beine kommen.«
Dann probiere ich den Schokoladenkuchen. Wie ich mir dachte, ist auch der absolut göttlich. Meine Freundinnen haben mich schon immer darum beneidet, dass ich »verbotene Sachen« essen kann, ohne ein Gramm zuzunehmen.
Selines Augen sind auf das Kuchenstück geheftet, das ich zum Mund führe. Sie ist wie hypnotisiert.
»Alles in Ordnung?«
Sie nickt.
Ich bekomme den Eindruck, dass sich ihr Gehirn total entleert hat, als wäre es ein kleiner Stauraum und sie hätte beschlossen, ihn mal gründlich auszumisten. Meine Sorge ist nur, dass es für lange Zeit leer bleiben wird. Tabula rasa.
Ich versuche, es anders anzugehen.
»Willst du ihm wirklich diesen Triumph gönnen?«
»Was?«
»Wenn du dich so verhältst, hat Adam gewonnen. Er wollte dir weh tun und dich lächerlich machen, um vor seinen Freunden anzugeben. Wenn er sieht, dass du leidest, hat er sein Ziel erreicht.«
»Ich denke nicht mehr an Adam. Das ist Schnee von gestern.« Ihre Augen blicken ins Leere.
»Seline, hör mir zu. Du darfst nicht zulassen, dass dich dein Schamgefühl wegen dem, was passiert ist, auffrisst. Er ist es, der sich schämen müsste, nicht du. Abgesehen davon hast du einen perfekten Körper, alle Mädchen der Schule beneiden dich darum.«
»Das ist nicht wahr!«, gibt sie diesmal entschlossen zurück. Ich habe den Finger auf die Wunde gelegt.
»Und ob das wahr ist.«
»Nein. Siehst du das nicht?«, sagt sie und zieht das weiche, weite Hosenbein ihres Anzugs um ihren dünnen Oberschenkel.
Ich stehe auf und halte meinen Oberschenkel zum Vergleich neben ihren, der magerer ist.
»Sieh doch selbst.«
»Was ich sehe, ist, dass du dünner bist, Alma, dünner und schöner.«
»Jetzt reicht’s aber!«, sage ich und packe sie an den Schultern. »Du musst aufhören, dich selbst zu bedauern und dir lauter Schwachsinn einzureden. Du musst dich wehren. Bist du meine Freundin oder nicht? Naomi, Agatha und ich sind stark und unerschrocken. Wir haben verschiedene Prüfungen hinter uns gebracht und sie bestanden. Und du genauso. Zusammen sind wir unbesiegbar. Vergiss das nicht.«
»Vielleicht bin ich ja nicht wie ihr. Vielleicht bin ich nicht mehr ›würdig‹.«
»Wenn du so redest, würde ich dich am liebsten ohrfeigen.«
»Vielleicht verdiene ich das ja.«
»Hör auf, Seline. Es ist nur ein dummes, von einem Mistkerl aufgenommenes Video. Wegen einer solchen Sache kannst du dich doch nicht so gehenlassen. Das kannst du nicht machen.«
Keine Antwort.
Seline starrt zu Boden.
Ich gehe zur Tür und habe vor zu verschwinden. Heute werde ich sie wohl nicht mehr davon überzeugen, dass es besser ist, sich zu wehren. Sie braucht Zeit. Vielleicht muss sie auch erst begreifen, dass sie außer ihrer Selbstachtung auch unsere Achtung verlieren wird, wenn sie so weitermacht.
»Warte.«
»Was ist?«, frage ich, mich zu ihr umdrehend.
»Ich werd’s versuchen«, verspricht sie und nimmt sich einen Keks. Sie führt ihn zum Mund und beißt kaum merklich hinein.
Immerhin etwas.
»Sehr gut. Wir sehen uns morgen in der Schule.«
Ich lasse Seline in ihrem Märchenzimmer zurück, wo sie an einem Keks nagt wie ein Kanarienvogel an seinem Sepiaknochen.
[home]
Kapitel 15
M ontag. Der Tag des Mondes, an dem alle sich das Recht herausnehmen, nervös zu sein, weil das Wochenende hinter ihnen und die neue Woche mit ihrer Last an Lernen, Arbeit und Verpflichtungen vor ihnen liegt.
Ich sehe zum Fenster hinaus. Derselbe Anblick wie immer: Der Fluss ist schwarz und von den Regenfällen der vergangenen Tage angeschwollen; kurz dahinter landen und starten die Flugzeuge und durchstoßen die grauen Wolken, die sich um die weißen Kondensstreifen herum aufzulösen scheinen. Ich erahne ein Blau am Himmel, das mich beinahe schwindelig macht.
Es gibt deutlich mehr Licht.
Die in das violette Heft geschriebene Geschichte ist weit weg von meinen Gedanken und meinem Leben. Ich bin wieder Alma. Meine Gewissheiten sind wieder auf ihrem Posten, wie lauter gehorsame Zinnsoldaten. Keine Zweifel oder Ängste mehr. Alles ist wie vorher. Alles ist gewohnt schrecklich.
»Evan!«, höre ich Jenna aus der Küche schreien. »Was zum Teufel hast du mit dir angestellt?«
Ich schätze, sie hat sein neues Zungenpiercing entdeckt. Es ist auch kaum möglich, es nicht zu bemerken, da er seiner geschwollenen, roten Zunge wegen redet, als hätte er eine heiße Kartoffel im Mund.
Durch meine Zimmertür hindurch höre ich nur Jennas Stimme. Ich stelle mir vor, wie
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