Nacht
Evan etwas nuschelt wie »Was willst du eigentlich? Verdammt, es ist mein Leben, das ist meine Sache« und dann das Haus verlässt, während meine Mutter zurückbleibt, auf die zugeschlagene Wohnungstür starrt und sich fragt, was sie wohl verbrochen hat, dass ihr Sohn sie so behandelt.
Als ich aus meinem Zimmer komme, ist Jenna noch im Flur. Sie zieht Lina gerade ihren Mantel an und dreht sich zu mir um, auf der Suche nach einem solidarischen Blick.
Aber ich tue so, als hätte ich nichts bemerkt. Ich will mich nicht in die Probleme zwischen meinem Bruder und meiner Mutter einmischen. Außerdem bin ich es müde, ihr zu sagen, dass es vergebliche Mühen sind, Evan präsentabel machen zu wollen. Was sie nicht kapiert, ist, dass er umso weniger auf sie hört, je mehr sie ihm zusetzt. Ich glaube sogar, dass Evan sich selbst verletzt, weil er eigentlich sie verletzen will.
Draußen vorm Haus atme ich erst einmal tief durch.
Die Dunstglocke lastet heute weniger schwer auf der Stadt als sonst, vielleicht weil Wind weht, für den vermutlich ein Programmierfehler im Großklima des Planeten verantwortlich ist. Normalerweise stagniert hier alles, eingeschlossen in ein zähes Grau, und manchmal habe ich den Eindruck, dass sogar die Blätter Mühe haben, von den Bäumen zu fallen.
Ich habe keine Lust, den Bus zu nehmen. Ich gehe zum Fahrradständer hinterm Haus und befreie dort mein Rad, das begraben ist unter hundert anderen Rädern von irgendwelchen unbekannten Leuten, die schon seit Jahrzehnten verschwunden sein können. Abgesehen von den beiden Reifen mit den glänzenden Speichen und dem Sattel gibt es nichts an meinem Fahrrad, das nicht auseinanderfällt. Der Korb ist total zerbeult und ähnelt einem alten, verlassenen Vogelnest. Das Rücklicht ist abgefallen und in einem Gully gelandet, weil es an dem Tag total geschüttet hat, und ob es je einen Ständer hatte, weiß ich noch nicht mal mehr. Der Rost hat einen großen Teil des Rahmens zerfressen, der ursprünglich mal türkis war, und eine Schrottmühle hinterlassen, die bei jedem Pedaltritt kreischt und bei jedem Schlagloch zuckt, schlimmer als ein mit Füßen traktierter Esel. Aber es ist das einzige Rad, das ich habe, und angesichts der finanziellen Lage meiner Familie möchte ich wetten, dass es eher der Drahtesel ist, der mich verlässt, als dass ich ihn durch einen neuen ersetze.
Ich fahre durch die Straßen der Stadt mit ihrem ohrenbetäubenden Lärmteppich aus Verkehr und Stimmen. Bis zur Schule ist es weit, aber ich radele gemütlich, habe es nicht eilig anzukommen. Dabei sehe ich mich um, als würde ich nicht seit vier Jahren jeden einzelnen Tag denselben Weg zurücklegen. Der Unterschied besteht in ein paar plötzlichen Sonnenstrahlen, die in die Gesichter der Passanten blinzeln und ihnen die Frage aufzwingen, was hier Merkwürdiges los ist. Manche blicken zum Himmel auf, andere bleiben verwundert stehen, wieder andere geben sich gleichgültig, als ginge die Sonne sie nichts an.
Ich überquere eine große Kreuzung und biege in eine lange, baumbestandene Allee ein. Es sind fünfhundertzwanzig Bäume. Ich habe sie mal an einem Tag gezählt, als ich zu Fuß nach Hause gehen musste, weil irgendein Idiot auf die Idee gekommen war, in der U-Bahn-Station eine Bombe zu legen. Das totale Chaos war ausgebrochen, alle waren von Panik erfasst, die Leute stürzten auf die Ausgänge zu und versuchten, in ihren Gesichtern nicht deutlich werden zu lassen, dass sie zu Tode erschrocken waren. Als wäre es eine Schande, Angst zu haben. Ich dagegen hatte wirklich keine Angst. Seit dem Tag meines Unfalls ist mir bewusst, dass der Tod jederzeit kommen kann, gerade dann, wenn man es am wenigsten erwartet. Ich erinnere mich, dass ich als eine der Letzten die U-Bahn-Station verließ, ohne Hast und in der Überzeugung, dass meine Stunde noch nicht geschlagen hatte. Und so war es auch.
Allerdings bin ich seitdem nie wieder U-Bahn gefahren.
Ich biege nach links ab, in eine Straße voller Geschäfte und Kaufhäuser. Hunderte von Quadratmetern glänzender Schaufenster, unmöglich, sich darin nicht zu betrachten, und sei es nur, um eine Kleinigkeit zu überprüfen oder, noch simpler, sich ein Bild davon zu machen, wie die anderen einen sehen.
Während ich mein Spiegelbild beobachte, fällt mir ein Mann auf, der sehr rasch an den Schaufensterreihen vorbeigeht. Er ist etwa zehn Meter hinter mir, dunkel gekleidet, nicht besonders schick, und trägt eine altmodische Sonnenbrille,
Weitere Kostenlose Bücher