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Nacht

Nacht

Titel: Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Melodia
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einen Hut und schwarze Handschuhe. Er sieht aus wie ein Geheimagent aus einem Fünfziger-Jahre-Film. Aber irgendetwas ist seltsam an ihm. Er scheint kahlköpfig zu sein unter dem Hut.
    Ich weiß nicht, warum, aber er beunruhigt mich.
    Ich trete langsam in die Pedale, folge der Fahrtrichtung. Dann schwenke ich nach rechts und schnell wieder nach links und drehe mich halb um. Er hat die Seite gewechselt und ist in die Straße eingebogen, durch die ich gerade fahre. Unglaublich, wie schnell er gehen kann. Und wie langsam mein Fahrrad ist. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass er mir folgt? Und wie groß die, dass er zufällig denselben Weg hat?
    Er ist nach wie vor da, auf dem Bürgersteig, zwanzig, dreißig Schritte hinter mir.
    »Alma!«
    Ich blicke immer noch über meine Schulter, als Naomi mich ruft. Ich sehe sie an der Kreuzung auf der anderen Straßenseite mit den Armen fuchteln. Ich fahre an den Rand und halte an. Hinter mir höre ich die Schritte des dunkel gekleideten Mannes.
    Er kommt näher.
    »Alma! Hier bin ich!«
    Ich mache Naomi ein Zeichen, dass ich sie gesehen habe und sie herüberkommen soll. Naomi schaut nach beiden Seiten und überquert die Straße.
    Der dunkle Mann erreicht mich, überholt mich und geht geradeaus weiter, ohne sich umzudrehen. Jetzt sehe ich es deutlich: Er hat keine Haare.
    »Ich habe mich geirrt«, sage ich laut.
    »Wieso geirrt?«, fragt Naomi, als sie vor mir steht.
    »Nichts, nichts Wichtiges. Gehen wir?«
    Wir setzen unseren Weg zur Schule fort, die gleich hinter der nächsten Ecke liegt.
    Ich steige ab und schiebe das Rad am Lenker. Das Quietschen des Rahmens ist wie ein rostiges Messer, das über meinen nackten Rücken gezogen wird.

[home]
    Kapitel 16
    D er Schulhof empfängt uns wie jeden Morgen: Mädchen und Jungen mit mehr oder weniger resignierten Gesichtern, dazwischen ein paar Überdrehte, die immer noch glauben, es sei eine Form von Stärke, sich als Erste durch eine Tür zu drängen. Sie wissen nicht, dass auch Hunde das so machen.
    Ich parke meine Schrottmühle auf dem letzten freien Platz am Fahrradständer und mustere mit einem Anflug von Neid die anderen Räder, die mit massiven Schlössern gesichert sind. Meines hat kein Schloss. Ich glaube nicht, dass irgendjemand es stehlen würde.
    »Warst du gestern bei Seline?«
    »Ja.«
    »Wie war’s?«
    »Die Lage ist ernst. Sie hat vollkommen ihr Urteilsvermögen verloren. Sie hält sich für fett und hässlich und leugnet das Offensichtliche.«
    »Sie hat ein schlimmes Trauma erlitten, die Ärmste.«
    Ich sehe Naomi vernichtend an.
    »Die Ärmste? Naomi, dir kann im Leben alles Mögliche passieren. Wenn du bei so was schon zusammenklappst, wie willst du dann mit dem Rest fertig werden?«
    »Schon, aber wir reagieren eben nicht alle gleich. Vielleicht braucht sie nur mehr Zeit.«
    »Das werden wir ja sehen.«
    »Meinst du, sie ist nicht auf Augenhöhe?«
    »Von was?«
    »Von uns.«
    »Ich meine, wir können ihr alle Hilfe geben, zu der wir in der Lage sind, aber es liegt an ihr, diese hässliche Geschichte hinter sich zu lassen. Einen Hoffnungsschimmer gibt es immerhin.«
    »Und der wäre?«
    »Gestern, bevor ich gegangen bin, hat sie in einen Keks gebissen.«
    Naomi sieht mich an und sagt nichts dazu. Es ist bloß ein kleines Zeichen, eine Nichtigkeit in den Augen der Welt. Doch für uns bedeutet es einen Halt, der uns Hoffnung macht, dass wir unsere Freundin nicht verlieren werden.
    Naomi und ich gehen dicht nebeneinanderher, Schulter an Schulter.
    Die üblichen anspielungsreichen Blicke, die Sprüche und Stadionpfiffe bleiben heute aus. Als wir in die Vorhalle kommen, wird mir klar, dass etwas passiert ist. Eine Gruppe von Jungs steckt am Treppenaufgang die Köpfe zusammen, aber ich kann nicht verstehen, worüber sie reden. Angestrengt versuche ich, ein paar Wortfetzen zu erhaschen.
    … Drache. Ein Drache? Was kann das bedeuten?
    Naomi starrt auf einen imaginären Punkt und lauscht ebenfalls.
    Wir steigen die Treppe aus weißem Marmor hinauf. Jedes Mal, wenn ich diese Stufen betrete, frage ich mich, wie es in dieser heruntergekommenen Schule eine weiße Marmortreppe geben kann. Das ist wie ein Kreuzfahrtschiff mitten in der Wüste. Sie hat nichts mit dem übrigen Gebäude gemeinsam und sollte gar nicht hier sein. Die Geschichte dieser Treppe ist wirklich kurios: Sie war das einzige Überbleibsel des alten Museums für Naturgeschichte, das man wegen Baufälligkeit abgerissen hatte. Und weil sie nicht wussten,

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