Nacht
einen alten, petroleumfarbenen Schaffellmantel, einen kleinen, räudigen Hund Gassi, der wie ein Besessener an der Leine zieht. Er wirkt lebensfroher als sein Herrchen.
Kurz hinter der Kirche gabelt sich die Straße. Ich biege nach rechts ab und nehme eine noch steilere Steigung in Angriff, die mir nach den schon zurückgelegten Kilometern mehr Anstrengung abverlangt, als mir lieb ist. Ich hoffe nur, dass ich mich nicht verfahren habe … inzwischen sollte ich mein Ziel langsam erreicht haben.
Ich bremse ab und sehe mich um: Am Straßenrand hat ein trister, kahler Baum den vom Frost brüchigen Asphalt mit seinen knorrigen Wurzeln aufgeworfen. Ein Stück weiter vorn hat jemand ein altes Sofa mit großen blauen Karos abgestellt, auf dem zusammengerollt eine riesige Streunerkatze liegt. Der Überfluss der einen ist das Glück der anderen. Vorausgesetzt, man hat Talent zum Glücklichsein und ist eine riesige Streunerkatze.
Ich setze den Fuß wieder aufs Pedal und lasse die Fahrradkette rückwärtslaufen.
Alte Häuser mit Giebeldächern stehen an beiden Straßenseiten. Die meisten sind von Gärten umgeben, die einmal recht prächtig gewesen sein müssen, jetzt aber angesichts von Kälte und Vernachlässigung zu Ansammlungen von Unkraut und Dornbüschen verkommen sind, wahrscheinlich willkommene Höhlen für herrenlose Tiere.
Die Fenster sind alle geschlossen, die Türen verriegelt. Nirgends ein Lebenszeichen.
Ich schaue mich suchend nach einer Hausnummer um. Agathas Haus müsste Nummer 33 sein. Die meisten Ziffern sind unlesbar geworden, doch an den verbliebenen erkenne ich, dass ich noch ein Stück weitermuss. Ich steige ab und schiebe das Rad langsam neben mir her. Dann entdecke ich endlich die » 33 « auf einem Blechschild an einer dunklen Eisenpforte. Ich traue meinen Augen nicht. Das Haus steht in einem Garten aus dichtem Gestrüpp, umzäunt von einem schmiedeeisernen Gitter. Es sieht aus wie auf einem verlassenen Friedhof. Von der Bauweise her ist es nicht anders als die übrigen Häuser dieser Straße, abgesehen von einer originellen Eigenheit, die es von allen unterscheidet und total irre wirken lässt. Es ist vollkommen mit Muscheln verziert. Die Fassade ist mit Kreisen, Rechtecken und Blumenmotiven aus dicht nebeneinander angeordneten Muscheln verschiedener Größen bedeckt. Es wirkt so, als hätte dieses hohe, schmale, ein bisschen unheimliche Haus lange auf dem Meeresboden gestanden und würde noch immer von Kreaturen der Tiefe bewohnt.
Ich vergewissere mich mit einem Blick auf das Klingelschild: Ja, es ist Agathas Haus.
Ich lehne mein Fahrrad an den Gitterzaun.
Da das Schloss kaputt ist, öffne ich ohne Schwierigkeiten die Pforte und schließe sie wieder sorgfältig hinter mir, damit sie keinen Lärm macht. Ich stehe auf einem in Zement eingefassten Pfad aus Steinen und Muscheln.
Ich folge ihm bis zur Haustür.
Hinter den dunklen Fenstern ist jemand, der mich beobachtet.
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Kapitel 19
D as Haus hat zwei Stockwerke. Die Fenster sind hoch und schmal wie das Gebäude selbst und gestatten keinen Einblick von außen. Schwere, farbige Vorhänge verhüllen gebieterisch die vom Kondenswasser und seltenem Putzen blind gewordenen Scheiben. Auf dem dunklen steilen Dach wechseln sich fehlende Ziegel und wintertrockene Unkrautbüschel ab. Ich frage mich, wie man in so einem Haus leben kann. Schon bei dem Gedanken gruselt es mich.
Plötzlich höre ich ein Geräusch.
Die Haustür, eine hölzerne Flügeltür, befindet sich am Ende einer alten, vom Zahn der Zeit angenagten Steintreppe. Die Angeln quietschen mit einem geradezu herzzerreißenden Klagelaut. Vor mir erscheint Agatha, in Jeans, dickem Pulli und roten Turnschuhen. Ihr Blick ist mörderisch.
»Was zum Teufel machst du hier?«
»Ich wollte vorbeikommen, um hallo zu sagen und zu hören, wie es deiner Tante geht.«
»Niemand hat dich darum gebeten. Verschwinde!«
»Agatha, aber, so kannst du mich doch nicht wegschicken.«
»Ach, kann ich nicht? Bei mir zu Hause kann ich tun und lassen, was ich will. Außerdem warst du nicht eingeladen. Du musst wieder gehen. Sofort!«, schreit sie völlig außer sich.
Ich habe sie noch nie so wütend gesehen.
Sie macht mir Angst.
»Bist du sicher, dass du keine …«
»Ich sage es dir zum letzten Mal. Hau ab!«
Sie kommt drohend auf mich zu.
Ich entscheide mich für den Rückzug. Es würde nichts nützen, weiter zu insistieren, sie lässt nicht vernünftig mit sich reden.
»Schon gut. Ich
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