Nacht
Professor K. nicht miteinander reden? Meine Gedanken und Gefühle überstürzen sich unkontrollierbar. Ich habe zu viele Fragen und keine Antwort.
Die Treppe. Nach Hause fahren, die Bettdecke über den Kopf ziehen und das Gehirn abschalten. Das ist es, was ich tun sollte.
Agatha kann im Grunde warten.
Ich eile die Treppe hinunter wie eine Katze auf der Hut. Im Erdgeschoss angelangt, schlüpfe ich durch die offene Tür ins Sekretariat. Mit Hilfe eines Feuerzeugs mache ich mir ein wenig Licht. Ich war schon öfter in diesem Raum, zu meiner Zeit als Klassensprecherin, daher weiß ich, wo sich die Adresskarteien befinden. In dem grauen Aktenschrank links. Die ältesten sind unten. Die der gegenwärtigen Schüler oben. Vorsichtig öffne ich den Schrank, ohne dass er quietscht, das Feuerzeug pendelt dabei hin und her wie eine ruhelose Seele. Ich finde den Aktenordner meiner Klasse, nehme ihn heraus, lege ihn auf den tintebeschmierten Tisch und klappe ihn auf. Ich gehe die Namen meiner Schulkameraden durch. Papierbögen.
Wir sind nichts als Papier in Plastikfolie.
Agatha.
Das Feuerzeug verbrennt mir die Finger. Ich mache es aus und wieder an.
Ich lese Agathas Adresse in der Altstadt und notiere sie auf einem Zettel. Im Dunkeln, wie eine Schlafwandlerin, stelle ich die Aktenmappe zurück, schließe die Schranktür und husche aus dem Sekretariat Richtung Ausgang. Wieder muss ich an die Szene denken, die ich gerade beobachtet habe. Habe ich das geträumt? Oder waren Morgan und Professor K. wirklich in diesem Labor?
Ich spüre, wie mir die Wirklichkeit entgleitet. Den Zettel mit Agathas Adresse fest umklammert, gehe ich lautlos davon.
In der Luft liegt ein starker Geruch nach Verbranntem, vermischt mit etwas, das an Benzin erinnert.
Kein anderer Duft.
[home]
Kapitel 18
I ch gehe nicht zu Agatha nach Hause.
Ich schaffe es nicht.
Die Tage und Nächte wechseln sich ab. Die letzte war besonders finster, ohne Träume, keine schlechten, keine schönen. Nur Leere. Ich bin weder müde noch ausgeruht. Ich habe keine Kopfschmerzen, aber auch keinen klaren Kopf. Der Himmel ist noch fader als meine Stimmung.
Ich höre Lina verzweifelt weinen. Das passiert ihr nicht oft. Immerhin ist das Weinen ein Laut, der das Gehäuse ihrer stummen Welt aufbricht. Ich werfe die Bettdecke zurück und gehe aus meinem Zimmer, um nachzusehen, was los ist.
Jenna ist schon fort. Sie hat uns einen Zettel auf den Dielentisch gelegt. Das macht sie immer, wenn sie früh aus dem Haus muss. »Geh einkaufen«, steht dort, und es besteht kein Zweifel, an wen sich das richtet. Üblicherweise schreibt Jenna mir genaue und ausführliche Anweisungen, wie ich mich während ihrer Abwesenheit, die – ebenfalls üblicherweise – den ganzen Tag dauert, um den Haushalt und um Lina zu kümmern habe.
Lina ist in ihrem Zimmer.
»Warum weinst du denn?«
Sie zeigt mir ihre Lieblingspuppe, deren Kopf abgerissen ist. Das Gesicht meiner Schwester ist tränenverschmiert, die Augen sind vor Entsetzen geweitet, wie man es nur bei Kindern sieht.
»War das Evan?«, frage ich sie, doch ich kenne die Antwort bereits.
Ich stürme hinaus und gehe sofort zum Angriff über.
Wie kann dieser Psychopath nur seine Wut an seiner kleinen Schwester auslassen? Das werde ich nie verstehen. Unsicherheit, Schwäche, Unfähigkeit zur Kommunikation, das ist schon unerträglich, aber noch viel unerträglicher finde ich solche blinde, sinnlose Gemeinheit.
»Fühlst du dich stark, wenn du dich an ihr abreagierst?«, schreie ich ihn an, nachdem ich die Tür zu seinem Zimmer aufgerissen habe. Wenn sie abgeschlossen gewesen wäre, hätte ich sie eingetreten.
Evans Zimmer ist klein und von einem komischen Geruch durchdrungen, so übel und stechend, als wäre eine giftige Substanz nach Jahrhunderten der Inaktivität freigesetzt worden. Es ist noch nicht einmal ein richtiges Zimmer, sondern eigentlich eine Abstellkammer, lediglich erhellt von einem winzigen, rechteckigen Fenster, das so hoch oben in der Wand sitzt, dass man nur ein taschentuchgroßes Stück grauen Himmel dadurch sieht.
Hier drinnen herrscht die totale Unordnung: Das Bett ist zerwühlt, wahrscheinlich schon seit Monaten, und beherbergt eine beeindruckende Menge an Zeitschriften, Kleiderhaufen, Comics und offenen CD -Hüllen, von denen ein großer Teil lädiert oder zerbrochen ist. Der kleine Schreibtisch ist vollständig unter Jacken, Taschen und Altpapier begraben. Wenn man es nicht wüsste, würde man denken, es gibt gar
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