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Nacht

Nacht

Titel: Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Melodia
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sofort, was sie alles können, was sie schon gemacht haben und noch machen werden. Er nicht. Er vermittelt den Eindruck, dass es viel mehr bei ihm zu entdecken gibt, als er nach außen zeigt.
    Am Ende des Parks steht eine Ampel, deren müdes Licht von irgendeinem Randalierer mit Steinen malträtiert wurde. Während ich auf Grün warte, höre ich Schritte hinter mir. Ich drehe mich ruckartig um, habe erneut das Gefühl, dass mir jemand folgt, dasselbe schreckliche Gefühl wie vor ein paar Tagen. Doch da ist niemand oder besser gesagt niemand, der sich für mich zu interessieren scheint.
    Grün.
    Ich trete in die Pedale und fahre weiter.
    Ich habe Mühe, die gewölbte Eisenbrücke hochzukommen, die die Stadt mit ihrem alten Teil verbindet. Sie ist lang und schmal und inzwischen nur noch für Radfahrer und Fußgänger passierbar. Durch die schwarz gewordenen Eisenträger hindurch sehe ich den Fluss, der von hier oben noch mächtiger und finsterer wirkt. Die Kraft der Strömung umhüllt die Zementpfeiler mit einer Explosion aus Wellen und Gischt. Sie reißt Baumstämme, Holzkisten, Flaschen mit sich. Sogar eine alte Waschmaschine mit Bullaugentür, die unaufhörlich auf- und zuschlägt, als würde sie um Hilfe rufen.
    Am anderen Ufer ragt die dunkle Backsteinfassade einer alten Autofabrik wie eine traurige Wächterin des einst blühenden und jetzt vergessenen Industrieviertels in die Höhe. Alles spricht von Vernachlässigung, überstürzter Wiedernutzbarmachung, Vorläufigkeit. Aus der Montagehalle ist ein Kino für Filme in Originalsprache geworden. Der Turm des Binnenhafenkrans trägt das Leuchtschild einer Ethnobar. Die ehemalige Pförtnerloge der Wachleute ist heute das Foyer einer Diskothek, die erst spät in der Nacht aufmacht. Geisterläden öffnen und schließen entlang der Straße, auf der einst die Lastwagen hin- und herrollten. Straßenhändler mit improvisierten Ständen verkaufen Nippes, alte Bücher, Vinylplatten, Secondhand-Klamotten. Und unter dem Ladentisch auch alles Übrige, was sie beschaffen können. Am Flussufer schaukeln einige zu Hausbooten umgewandelte Lastkähne. Es heißt, die ganze Gegend sei jetzt von Künstlern aller Art bewohnt, die aus der Trostlosigkeit eine Quelle der Inspiration machen und aus dem Trash eine Kunstform. Ich sage, hier gibt es keine Künstler. Nur Verzweifelte.
    Hinter der Brücke nehme ich die schmale und kurvenreiche Straße, die allmählich zu einem Labyrinth aus krummen Gässchen ansteigt. Sie wird von kleinen, niedrigen Häusern gesäumt, eng und dicht stehend wie die Zähne im Maul eines Dinosauriers. Die Leuchtschriften über den Türen sind ausgeschaltet, lassen aber keinen Zweifel aufkommen: Das ist die Meile der Nachtlokale, alle ausnahmslos geschlossen um diese Zeit. Vereinzelte leere Flaschen auf dem Boden erinnern an die lange, kaum vergangene Nacht. Ich höre sie herumrollen, getrieben vom Wind, der vom Fluss aufkommt. Abgesehen davon hört man nichts weiter als ein dröhnendes Gemurmel, wie von unterirdischen Maschinen. Es ist der alltägliche Lärmpegel der Stadt. Sonst gibt es hier nur Stille und Kälte. Ich kenne diese Gegend nicht sehr gut. Ich weiß nur, dass hier irgendwo in der Nähe auch das BabyBlue ist, wo es Seline so schlechtging. Wie lange ist es her, dass ich mal einen vergnügten Abend mit ein paar Freunden verbracht habe? Welcher Abend? Welches Vergnügen? Welche Freunde? Jedenfalls zu lange. Ich beschäftige mich nur noch mit meinen Problemen, die sich scheinbar andauernd vermehren. Zuerst Adam, Seline … nein, zuerst die Alpträume, die Kopfschmerzen, und dann gleich darauf Adam, Seline, die Geschichte (wieder nein: Das violette Heft kam vor allem anderen), der Mord an dem Werbefachmann (wie hieß er doch gleich? Adam? Alek), die Kopfschmerzen …
    Mit aller Kraft trete ich in die Pedale.
    Und dann Morgan, Agatha, Naomi und Tito … alle haben sie mich dermaßen in Anspruch genommen, dass ich darüber vergessen habe, einfach ein siebzehnjähriges Mädchen zu sein.
    Ich erreiche den Kern der Altstadt und fahre an einer kleinen Kirche mit abblätterndem Putz vorbei, die nicht anders aussieht als alle anderen Gebäude der Umgebung und einem Friedhof gegenüberliegt. Flüchtig nehme ich ein paar Grabsteine wahr, ordentlich auf der Wiese aufgereiht wie lauter Fähnchen. Jeder auf seinem zugewiesenen Platz und kein Gedränge bitte, auch nicht im Jenseits.
    Keine Menschenseele ist unterwegs. Nur ein einziger Mann führt, eingemummelt in

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