Nacht
2 O, SiO 2 , NaOH, RbOH, NH 3 , P.
Was ist das für Zeug?
Jetzt brauchte ich Professor K.
Denk nach, Alma. Denk nach.
Ich fahre mit dem Finger über die Etiketten … Das P für Phosphor. NH 3 , Ammoniak, und NaOH? Na klar, das Experiment mit dem Essig, das der Professor uns hat durchführen lassen! Das ist Natriumhydroxid. Die anderen Formeln habe ich noch nie gesehen, soweit ich weiß. Was zum Teufel brütet Agatha da aus?
Plötzlich bewegt sich der Zeiger der großen eierschalfarbenen Porzellanuhr an der Wand mit einem lauten, mechanischen Klacken vorwärts. Einen Moment lang glaube ich zu sterben. Dann setzt meine Atmung wieder ein.
Ich lasse von den Formeln ab, kehre zur Treppe zurück und steige langsam in den ersten Stock hinauf.
Sehr langsam.
Ich blicke hinaus in den Garten.
Es ist alles grau.
Die Scheiben sind grau.
Wie Leichentücher.
Auf dem ersten Treppenabsatz bleibe ich stehen und atme tief durch. Ich sehe nach unten, dann nach oben. Ich entdecke ein altes kariertes Sofa mit darüber geworfenen Decken und einem Schirm neben der rechten Armlehne. Scheint, als hätte hier seit langem niemand mehr Ordnung gemacht.
Ich gehe weiter. Als die erste Etage sichtbar wird, bemerke ich einen Streifen von künstlichem Licht unter einer der vier Türen, die auf den Flur hinausgehen. Sie sind alle geschlossen. Vier geschlossene Türen.
Die Luft hier oben ist noch stickiger und reizt meine Nase.
Ich stütze mich auf das Treppengeländer und nehme die letzte Stufe.
Ammoniakgeruch.
Der Fußboden ist mit einem purpurroten Teppichboden ausgelegt, der an die Farbe von Blut erinnert. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich will so schnell wie möglich wieder hier raus, aber die vier Türen vor mir sind ein unwiderstehlicher Magnet.
Ich mache einen Schritt. Dann noch einen. Meine Schuhe sinken in dem Teppichboden ein, als wäre es ein Sumpf. Ich schüttele die Schauder ab, die mir erneut den Rücken hinaufkrabbeln wie ein Insektenschwarm.
Ich nähere mich der Tür, aus der das Licht dringt.
Mir scheint, ich höre es summen.
Das Licht.
Das elektrische.
Ich schleiche weiter. Die Tür ist doch nicht ganz geschlossen.
Der Ammoniakgeruch wird immer durchdringender.
Da ist ein Spalt. Nur einen Zentimeter breit oder wenig mehr.
Ich spähe hindurch.
Ein Schlafzimmer.
Ein Bett, so gigantisch wie eine Riesenqualle. Ein Betthimmel mit Gazeschleier und eine enorm hohe Matratze, die so dick gepolstert ist wie ein Pilz kurz vorm Platzen. Ich habe gerade noch Gelegenheit, eine Frau in dem Bett liegen zu sehen, starr und reglos.
Vermutlich Agathas Tante.
Dann höre ich mit beängstigender Deutlichkeit die Eisenpforte gegen den Pfosten schlagen. Schritte auf dem Muschelzementpfad. Agatha kommt zurück. Ohne eine Sekunde zu überlegen, renne ich die Treppe hinunter und wieder durch den Flur im Erdgeschoss bis zur Kellertür. Ich umfasse den Türknauf und bete, dass sie auch vom Hausinnern ohne Schlüssel zu öffnen ist. Er dreht sich.
Sie geht auf!
In null Komma nichts sause ich die Treppe hinunter. Wie durch ein Wunder gelingt mir das, ohne etwas umzuwerfen. Ich sehe zu dem Fensterchen auf, durch das ich hereingekommen bin. Steige auf die Holzkisten, springe, ziehe mich am Fensterrahmen hoch und krieche nach draußen.
Gleich bin ich aus dem Garten heraus, und Agatha wird nie etwas von meinem Besuch erfahren. Ich packe die Deichsel des alten Holzschlittens oder was auch immer es ist, und halte mich daran fest, kneife die Augen zu.
Die Haustür wird geöffnet, und ich höre Agatha die Treppe hinaufsteigen.
Ich flüchte wie ein Dieb.
Wie ein Gespenst.
Wie ein siebzehnjähriges Mädchen, das zu Tode erschrocken ist von dem, was es gesehen hat.
Ich strampele wie verrückt.
Die Kette protestiert. Der Rahmen ächzt, als würde er jeden Moment auseinanderbrechen.
Ich erreiche den Fluss.
Mache den Mund auf, um den Wind einzuatmen.
Mein Kopf ist bleischwer, fast so, als hätte ich einen Teil der vielen Gegenstände mitgeschleppt, die in diesem Haus angehäuft sind.
[home]
Kapitel 20
D er nächste Tag beginnt unter den besten Vorzeichen: Evan sagt guten Morgen, Jenna ist noch nicht zur Arbeit ins Krankenhaus gegangen, der Himmel ist blau, und es stehen keine unangenehmen Stunden oder Klassenarbeiten bevor. Es ist wie ein Wunder. Zur Feier des Tages wähle ich ein grünes, enganliegendes, tief ausgeschnittenes Minikleid und dazu schwarze Wildlederhalbstiefel mit Absatz. Das muss reichen heute, damit ich
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