Nacht
keinen. Nur Evans Gitarre scheint pfleglich behandelt zu werden. Rot wie die Haut des Teufels prangt sie auf ihrem Ständer, ganz Herrin des Zimmers, flankiert von den Verstärkern, die an der hinteren Wand lehnen. Kabelknäuel liegen verwickelt auf dem Boden wie schlafende Schlangen. Die Gitarre herrscht über sie.
Evan hat Kopfhörer auf den Ohren und die Musik bis zum Anschlag aufgedreht. Er ist dabei, sich fertig anzuziehen, oder vielmehr seinen klapperdürren Körper mit den erstbesten Lumpen zu bedecken, die er aus dem bedrohlich aufragenden Berg auf seinem Bett ausgraben kann.
»He!«, schreie ich und schlage ihm auf den Rücken.
Er macht einen Satz rückwärts und fährt wütend herum. Seine glatten, dunklen Haare fallen ihm in die Augen.
»Scheiße, hast du mich erschreckt!«
»Nimm die Dinger von den Ohren!«
Evan schiebt die Kopfhörer zurück. »Was willst du, verdammt?«
Ich halte ihm die kaputte Puppe vor die Nase und merke dabei, dass Lina hinter mir aufgetaucht ist und die Szene ängstlich beobachtet. Evan starrt auf die Puppe und sieht mich dann herausfordernd an.
»Na und?«
»Warum hast du das getan?«
»Sie hat genervt.«
»Sie hat genervt? Deine Schwester nervt dich, und da reißt du ihrer Puppe den Kopf ab? Und ich, was soll ich jetzt machen?« Ich strecke die Hand nach der Sicherheitsnadel aus, die seine Wange durchbohrt, aber er weicht mir aus. »Was willst du eigentlich beweisen? Du bist nichts als ein Versager!«
Ich weiß, dass dieses Wort ihn in Rage bringt. Er setzt die Kopfhörer wieder auf und wendet den Blick ab. Dann stürzt er sich plötzlich auf mich und versetzt mir einen groben Stoß.
»Raus hier!«, brüllt er und wirft mich aus seinem Zimmer.
Er schlägt mir die Tür vor der Nase zu.
So sehen die Dialoge mit meinem Bruder Evan aus.
Ich bin stinksauer, sage aber nichts mehr. Ich starre nur auf die Tür, zwei Zentimeter vor meiner Nasenspitze, und denke. Es sind keine schönen Gedanken. Ich wünsche ihm das Schlechteste. Ich wünsche ihm, dass er immer so ein Loser bleibt.
Vor Wut balle ich die Fäuste.
Eine kleine Hand berührt mein Bein.
»Kleine Lina.« Ich knie mich vor sie hin. »Ich kaufe dir eine andere Puppe, eine ganz neue, ja? Wir gehen sie zusammen aussuchen. Einverstanden?« Ich tröste Lina, so gut ich kann, aber am Ende ist sie es wieder, die mir hilft. Nach wenigen Sekunden, die Augen noch tränennass, lächelt sie mich schon wieder an. Sie nimmt ihre geköpfte Puppe und drückt sie an sich.
»Nein. Du willst diese behalten.«
Sie nickt.
»Und du willst keine neue.«
Sie zieht die Nase hoch.
»Und du bist nicht böse auf Evan.«
Lina läuft in ihr Zimmer, als wäre jetzt alles geklärt. Ich werde nie begreifen, wie sie anderen so leicht verzeihen kann. Ich bin nicht wie sie. Das ist nichts für mich.
Wer einen Fehler gemacht hat, soll dafür büßen.
Meine Gedanken wandern zu Agatha. Ich muss los.
Es ist ein kalter, wolkiger Tag. Der Himmel sondert hin und wieder ein paar eisige Regentropfen ab, die wie Kugeln in alles einschlagen, was ihnen gerade in die Quere kommt, Menschen, Bäume, Autos. Die Altstadt liegt ziemlich weit entfernt von meiner Wohnung, und obwohl das Wetter nicht das beste ist, beschließe ich, mit dem Fahrrad hinzufahren. Ich trete schnell in die Pedale, so schnell es die schlackernde Kette erlaubt, teils, um mich aufzuwärmen, teils, um meine immer noch brodelnde Wut auf Evan wegzustrampeln. Die eiskalte Luft schneidet in meine Haut. Tausend feine Nadelstiche treffen meine Nerven und setzen mich unter Strom, was aber nicht unangenehm ist. Es ist Energie, um weiterzumachen. Es ist Leben.
Ich erreiche den Kleinen Park und nehme den Radweg, der wie eine schmerzhafte Wunde mitten hindurchgeht. So was gibt es in der ganzen Stadt, hier ein Stückchen, da ein Stückchen, ohne Verbindung, ohne Zusammenhang, Nähte wie von einem wahnsinnigen Chirurgen.
Neben mir strudelt der Fluss ungestüm zwischen seinen Uferbefestigungen.
Während ich vor mich hin strampele, denke ich an Morgan. Ich weiß nicht, warum. Ich habe mir nie viel aus Jungs gemacht. Sie sind so banal und leicht zu durchschauen, wollen nur ihre Muskeln aufpumpen und Mädchen abschleppen. Oder sie sind mager und linkisch und flüchten sich in absurde Comicgeschichten oder verderben sich die Augen vor Computerspielen. Aber er ist anders, irgendetwas an ihm ist anders, etwas, das ich noch nicht richtig zu benennen weiß. Gewöhnlich erzählen einem Jungen immer
Weitere Kostenlose Bücher