Nacht
mich stärker und ruhiger fühle.
Als ich zur Schule komme, sind die Augen der Jungs alle auf mich gerichtet. Meine Augen aber suchen unwillkürlich nach einer bestimmten Person. Morgan.
Im Hof ist er nicht, auch nicht auf der Treppe.
Er steht vor meinem Klassenraum. Wartet er auf mich?
Er trägt eine schwarze oder dunkelblaue Hose und einen hellblauen, ziemlich körperbetonten Pullover. Das erste helle Kleidungsstück, das ich an ihm sehe. Sonst hat er auch heute wieder einen dunklen Schal um seinen Hals gewickelt, wie eine Schlange, die ihn beschützt. Ein paar Sonnenstrahlen fallen durchs Gangfenster und beleuchten ihn wie einen Schauspieler auf der Bühne. Seine Haare sind reines Licht, seine Augen zwei Edelsteine. Er sieht aus wie ein Engel.
Er fixiert mich, als wollte er mich hypnotisieren, und wartet, dass ich herankomme. Wortlos nimmt er meine Hand. Dann verschwindet er in der Schülermenge, und ich halte einen Zettel in der Hand. Ich presse das Stück Papier einen Moment in meine Handfläche, ehe ich die Faust öffne und lese: »Wir sehen uns nach der Schule in der Zebra-Bar. M.«
Beim Betreten der Klasse begegnet mein Blick sogleich dem von Agatha. Sie ist zurück. Gut.
»Hallo.«
Ich bemühe mich um einen möglichst neutralen Ton. Ich habe keine Angst, dass sie mich entdeckt haben könnte. Das ist unmöglich, das weiß ich.
»Hallo«, sagt sie mit ihrer gewohnt undurchdringlichen Miene.
»Wie geht’s deiner Tante?«
»Wie einer unheilbar Kranken, die sich mit aller Kraft ans Leben klammert«, antwortet sie nüchtern. Ich glaube, das ist der längste Satz, den ich dazu von ihr gehört habe, seit ich sie kenne.
»Das freut mich.«
Sie schnaubt. »Hör mal, Alma, ich …«
Ich winke ab. »Lass gut sein. Es war falsch von mir, unangekündigt zu kommen.«
»Ja«, bestätigt sie und sieht weg.
Seline und Naomi stoßen zu uns. Seline wird immer weniger, ohne dass sich irgendjemand deswegen zu sorgen scheint. Ihre blasse Haut spannt sich über ihr Gesicht, ihre Augen sind wie zwei erloschene Sonnen, eingesunken in die von dunklen Ringen umgebenen Höhlen. Ihre Haare hängen strähnig und glanzlos herab, passend zu der Traurigkeit, die von jeder ihrer Gesten ausgeht.
»Hallo«, begrüße ich sie.
»Hallo.«
Auch Naomi kommt mir abgespannter vor als sonst.
»Alles in Ordnung?«, frage ich sie.
»Ja, bestens.«
»Du siehst müde aus.«
»Ich habe nicht viel geschlafen am Wochenende«, gesteht sie mit einem kleinen Lächeln.
Ich lächele nicht zurück.
»Soll heißen?«
»Wir waren zusammen aus!«
Tito.
Dann verbessert sie sich, flattert mit den Händen. »Also … es war eigentlich keine richtige Verabredung. Wir waren nicht allein, aber … Jedenfalls … Tito hat mich zu einer ganz exklusiven Party eingeladen.«
Ich werfe ihr einen schrägen Blick zu. Mir gefallen solche Sachen nicht und erst recht nicht solche Leute. Das weiß sie. »Wann?«
»Er hat gesagt, ich soll mich jeden Abend bereithalten. Es wird eine Überraschung.«
»Du wirst uns dann ja alles erzählen«, beende ich das Thema, ohne Naomi die kleinste Befriedigung zu gönnen.
Sie ist getroffen, denn sie war stolz darauf, etwas außerordentlich »Exklusives« zu machen.
»Was ich dich fragen wollte, Alma.«
Ich sehe sie fragend an.
»Kennst du ein Mädchen namens Tea?«
Ich spüre einen warnenden Stich im Nacken. »Ja, warum?«
»Tito hat sie mir vorgestellt. Ich habe ihr gesagt, auf welche Schule ich gehe, und ihr von meinen Freundinnen erzählt, und als dein Name fiel …«
»Wie kommt’s, dass sie was mit dieser Clique zu tun hat?«
»Weshalb man überhaupt etwas mit einer Clique zu tun hat – weil es ihr Spaß macht. Sie ist eine Freundin von Tito. Ehrlich gesagt, habe ich nicht viel mit ihr gesprochen. Sie scheint mir nicht gerade der kontaktfreudige Typ zu sein.«
»Sie ist die Tochter vom Lebensgefährten meiner Mutter«, sage ich.
»Ach so, das wusste ich nicht …« Naomi ringt kurz die Hände, als würde sie überlegen, ob sie mir etwas anvertrauen soll oder nicht. »Also, dann denke ich, du solltest etwas wissen.«
»Schieß los.«
»Ich habe sie zufällig etwas sagen hören, das nicht für meine Ohren bestimmt war.«
Ich warte, dass sie fortfährt.
»Sie will von ihrem Vater Geld stehlen, weil sie in den Miesen ist.«
»Sie haben sie an ihrem Arbeitsplatz beim Klauen erwischt«, korrigiere ich sie.
Naomi widerspricht aufgebracht: »Nein, ich bin sicher, sie hat davon geredet, die
Weitere Kostenlose Bücher