Nacht
mit jungen Leuten, mit Stimmengewirr und Loungemusik im Hintergrund. Weiße Tische und Sofas zu einem glänzend schwarzen Fußboden. Schräg gestreifter Tresen. Gedämpftes Licht.
Ich brauche weniger als eine Sekunde, um Morgan zu finden. Ein deutliches Gefühl sagt mir, dass mich jemand ansieht. Ich drehe mich um, und da sind sie, seine magnetischen Augen. Er sitzt an einem Tisch ganz hinten, in Richtung Eingang, damit er sehen kann, wer hereinkommt. Er tut nichts, macht mit keiner Geste auf sich aufmerksam. Offenbar ist er sicher, dass sein Blick genügt. Und das tut er.
Langsam gehe ich auf ihn zu, ohne meinen Gesichtsausdruck zu verändern, ohne unseren Blickkontakt zu unterbrechen. Als ich bei ihm bin, lächelt er und steht auf.
»Hallo«, sagt er ruhig.
Er überlässt mir seinen Platz, von dem aus man das Lokal überblickt. Dann setzt er sich mir gegenüber und sieht mir in die Augen. Ich ziehe meine Jacke aus und lege sie auf das Zweiersofa nebenan. Von diesem Moment an gibt es nur noch uns beide.
»Ich freue mich, dass du gekommen bist.«
»Na ja, ich gehe nicht besonders gern ins Zebra, aber …«
»Zu viele Mitschüler.«
»Genau.«
Woher weiß er, was ich denke? Bin ich ein derart offenes Buch? Oder sieht er die Dinge einfach genauso wie ich?
Ein hochgewachsener, dunkelhaariger und braungebrannter Kellner kommt auf uns zu.
»Zwei Kaffee Zebra«, bestellt Morgan.
Ich sehe ihn an, widerspreche jedoch nicht. Normalerweise bestelle ich gern für mich selbst, aber ich hätte ohnehin einen Kaffee Zebra genommen, das Beste, was sie hier haben.
»Hast du mich deswegen eingeladen?«
»Klar, wegen des Zebrakaffees …«, sagt er grinsend.
Wenn Morgan lächelt, verändert das sein ganzes Gesicht. Seine etwas kantigen Züge werden weicher, und sein mysteriöser Charme vermischt sich mit seiner Schönheit, strahlend, hinreißend. Ich kann es nicht anders erklären, er erhellt einfach alles um sich herum. Mich eingeschlossen.
»Sag schon, warum?«
»Wegen einem Drachen.«
Mit allen Antworten hätte ich gerechnet, nur nicht mit der. »Einem Drachen?«
»Einem Drachen.«
»Warst du das?«
Vorsichtig schiebe ich eine Hand in die Tasche der Jacke neben mir, als befürchtete ich, das Origami könnte mich beißen.
Morgan verfolgt meine Bewegung mit den Augen. »Was war ich?«
»Von welchem Drachen redest du?«, frage ich.
Meine Finger kramen in der Tasche. Ich hole das Origami heraus und stelle es auf den Tisch.
Morgan ist überrascht. Er starrt es wortlos an. »Hübsch«, sagt er dann. »Aber nicht von mir.«
Der Kellner bringt unsere Bestellung. Auf dem Tisch stehen jetzt zwei große weiße Tassen, randvoll mit Kaffee und gekrönt von einer Sahnehaube, die mit Streifen aus dunkler Flüssigschokolade durchzogen ist. Zwischen den Tassen sitzt ein kleiner Papierdrache, der im Schummerlicht des Cafés zu vibrieren scheint.
»Du hast sicher gehört, was im Direktorat passiert ist.«
»Klar, das weiß die ganze Schule«, sage ich. »Es war Adam.«
»Es war Adam«, wiederholt er. Doch sein Ton lässt durchblicken, dass es da eine Version des Geschehens gibt, von der ich nichts weiß.
»Man hat seinen Ring gefunden«, füge ich hinzu.
»Stimmt.«
Genüsslich inhaliere ich den unverwechselbaren Duft des Kaffees. Morgan imitiert mich, ich weiß nicht, ob er mich aufziehen will. Mit dem Löffel schabe ich einen Schokoladenstreifen herunter und führe ihn zum Mund. Dann mache ich das Gleiche mit der Sahne. Der Gedanke, jetzt vielleicht verschmierte Sahne im Mundwinkel zu haben, macht mich zum ersten Mal verlegen. Ich bin nicht so gelassen und selbstsicher wie sonst.
»Das ist kein gewöhnlicher Drache, es ist ein Meeresdrache«, nimmt Morgan den Faden wieder auf und deutet auf das Origami.
Ich höre ihm zu, den Geschmack des Kaffees im Mund und ein Meer voller Gedanken im Kopf.
»Die Geschichte der Drachen reicht weit in der Zeit zurück. Es hat sie schon immer gegeben. In Mesopotamien, Ägypten, Griechenland, Rom … in allen westlichen Hochkulturen der Antike. Dort hatte er fast immer eine negative Bedeutung. Der Drache verkörpert das Böse, das es zu bekämpfen gilt.«
Ich höre zu, ohne mir ein Wort entgehen zu lassen.
»Im Orient dagegen ist das ganz anders. In China wird er sogar als guter Geist, als Lebensquelle angesehen. Er ist weise und bewahrt die Traditionen. Beschützt einen.«
»Warum erzählst du mir das alles?«
»Sieh ihn dir an«, sagt er und schiebt das kleine Origami zu mir
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