Nacht
rüber. Ich betrachte ihn aufmerksam.
»Du verstehst nichts von Drachen, stimmt’s?«
Als wäre das etwas, für das sich normalerweise jeder interessiert.
»Ich helfe dir … Du musst dir seine Flügel ansehen.«
»Sie sind sehr klein.«
»Richtig. Weil der Meeresdrache es nicht nötig hat zu fliegen.«
»Okay, aber …«
»Warte. Hier sieht man das nicht gut, aber der Meeresdrache hat auch Schwimmhäute zwischen seinen Klauen.«
Ich verstehe noch immer nicht, worauf er hinauswill.
»Hast du schon jemals so einen Drachen gesehen, Alma?«
Ich denke wieder an den Abend am Fluss. An Adams auf mich gerichteten Finger. An den im Licht der Straßenlaterne aufflammenden Ring.
»Ich weiß nicht. Ich bin nicht sicher, ob es diese Art von Drache war. Aber Adams Ring …«
»Genau. In den Ring ist ein Meeresdrache eingraviert. Der Drache ist ein Symbol. Ein Symbol der Macht oder vielmehr der Zugehörigkeit zur Macht.«
»Was willst du mir damit sagen? Dass Adam einer Gang angehört?«
»Nein. Ich will dir nur sagen, dass du auf der Hut sein solltest.«
»Auf der Hut wovor?«
»Vor denen, die dieses Symbol tragen.«
Ich schüttele den Kopf. »Das verstehe ich nicht.«
»Ich glaube, doch.«
»Ist das eine Drohung?«
»Es ist eine Warnung.«
»Du hast nicht so einen Ring.«
»Ich habe auch keinerlei Macht.«
In seinen Augen lese ich noch etwas anderes, etwas, das er nicht sagt, aber mir zu übermitteln versucht. Urplötzlich habe ich das Gefühl zu ersticken.
»Du bist wirklich seltsam.«
»Manchmal.«
Wir trinken einen Schluck Kaffee.
»Gewöhnlich laden Jungs Mädchen nicht ins Café ein, um … um über Drachen zu sprechen.«
»Da hast du recht«, sagt er lächelnd. »Ich werde versuchen, etwas Normaleres zu tun – ich gebe dir meine Telefonnummer. Falls du mal wieder einen Kaffee Zebra trinken willst oder …«
Er lässt den Satz in der Schwebe und kritzelt eine Nummer auf den Schwanz des Papierdrachen.
Ich stehe auf, ziehe meine Jacke an und stecke das Origami ein.
»Ich muss jetzt gehen.«
Er steht ebenfalls auf.
»Tschüss«, verabschiedet er sich.
Es sind viele Leute in der Zebra-Bar, die ich kenne. Und doch fühle ich mich wie eine Fremde, die irrtümlich hier gelandet ist, mitten unter rätselhaften Menschen und schlechter Musik.
Ich habe Kopfschmerzen.
Ich will hier raus.
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Kapitel 22
A uf mein Treffen mit Morgan in der Zebra-Bar folgen eintönige und bedeutungslose Tage. Nichts passiert, abgesehen von starken Kopfschmerzen, die keinen Augenblick nachlassen. Ich treffe Morgan nicht mehr in der Schule, und ich rufe ihn auch nicht an, obwohl ich dauernd an ihn denken muss. Doch mich beschäftigt noch anderes: Unser Freundinnenkreis zerfällt weiter unabwendbar, und Naomi bereitet sich in immer undurchdringlicherem Schweigen auf ihre
exklusive
Party vor. Dabei habe ich den starken Eindruck, dass es ein erzwungenes Schweigen ist, als wollte oder dürfte sie nicht mit mir über etwas reden, von dem sie weiß, dass ich es nicht gut finden würde: Ihr neuer Freund Tito – garantiert hat es etwas mit ihm zu tun.
Seline ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Mit den Kilos hat sie auch das Interesse an allem und jedem verloren. Sie stellt keine ihrer tausend überflüssigen Fragen mehr und gerät nicht mehr aus dem Häuschen wegen eines neuen Paars Schuhe. Sie kleidet sich wahllos, ihre Beine sind zu zwei dürren Ästen zusammengeschrumpft, und ihr Gesicht ist ausgemergelt von den Medikamenten. Immerhin lassen ihre Eltern sie medizinisch überwachen.
Agatha ist als Einzige wie immer. Oder vielleicht will sie auch nur, dass es so aussieht, denn was wirklich in ihr vorgeht, weiß man nie so genau. Sie hasst weiterhin alle Personen männlichen Geschlechts, die sich ihr nähern, und hält sich konsequent an ihr Rezept vollkommener Abschottung. Ich glaube, ich habe sie noch nie mit jemandem ein paar Worte wechseln sehen, außer mit uns. Und ihrer Tante, vermutlich. Sie fehlt oft, erzählt uns aber nichts.
Wenn ich sie frage, wie es so läuft, antwortet sie: »Gut.«
Wenn ich sie nach ihrer Tante frage, antwortet sie: »Wie gestern.«
Ich unternehme mehr als einen Versuch, ihr zu helfen. Ich weiß nicht, warum, aber auf eine gewisse Art fühle ich mich ihr näher als den anderen beiden. Es ist nicht ihre Schuld, sage ich mir, wenn sie so schlecht drauf ist, während Seline und Naomi sich ihre Probleme selbst schaffen.
An einem dieser Tage frage ich Agatha in der Pause, ob sie
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