Nacht
vorbeikommen?«
»Nicht so gern.«
Draußen ist es schon fast dunkel, und der Alptraum von neulich abends ist mir noch sehr gegenwärtig.
»Ich muss sowieso zum Kommissariat. Dann triff mich doch dort. Hinterher können wir vielleicht unser ausgefallenes Abendessen nachholen.«
»Einverstanden, dann sehen wir uns da. Danke«, sage ich, ohne auf die Einladung einzugehen.
Endlich tut sich etwas, denke ich. Das hat jetzt lange genug gedauert. Ob die Polizei neue, nützliche Hinweise gefunden hat?
Ich schreibe Jenna eine Nachricht und lege sie auf den Dielentisch. »Ich gehe mit Freunden Pizza essen. Es wird nicht spät, versprochen. Alma.«
In Wahrheit habe ich keine Ahnung, wann und wie der Abend enden wird.
Ich ziehe noch nicht einmal die Jacke aus. Packe die Schulbücher auf meinen Schreibtisch, die schwer wie Felsbrocken sind, und gehe wieder zur Tür. Ich will weg sein, ehe jemand nach Hause kommt. Aber ich bin nicht schnell genug. Ich höre einen Schlüssel im Schloss und sehe mich kurz darauf den beiden Zombies gegenüber, meinem Bruder Evan und seiner Freundin Bi.
Sie sehen aus, als kämen sie direkt aus einer Obdachlosenunterkunft: alte Klamotten, zehn Nummern zu groß, Sweatshirts mit halb aufgerissenen Ärmeln und grässliche, immer dreckige Treter. Mit der Zeit haben sie sich einander immer mehr angeglichen. Sie trägt ihre Haare jetzt genau wie er, so lang, dass sie die Hälfte des Gesichts verdecken, und immer ungekämmt.
»Hallo.«
»Hallo«, nuscheln sie einstimmig.
In ihren halboffenen Mündern blitzen die Metallkügelchen auf, mit denen sie ihre Zungen durchbohrt haben.
»Ich gehe weg. Ich hab Jenna einen Zettel hingelegt.«
Evan sieht mich herablassend an, als wollte er fragen, warum ich ihm etwas erzähle, was er sehr gut selbst feststellen kann. An so etwas bin ich gewöhnt, ihm sind sowieso alle egal. Außer vielleicht Bi.
Ohne ein weiteres Wort schlurfen sie in Evans Zimmer und machen die Tür zu.
Kopfschüttelnd gehe ich und überlasse sie ihrer kleinen, abgeschotteten Welt.
Es ist sechs Uhr.
Die Dunkelheit gewinnt die Oberhand über das Licht. Das Unvorhersehbare über das Normale. Die Angst über den Mut. In meine Jacke eingemummelt, gehe ich eilig zur Bushaltestelle. Mindestens dreimal blicke ich mich um. Ich fühle mich ständig in Gefahr, von Geschehnissen umzingelt, die immer näher rücken wie eine Horde hungriger Raubtiere.
Wieder denke ich an Morgan, an das, was er für mich getan hat. Die Bindung zwischen uns ist schwer zu definieren. Morgan umwirbt mich nicht und tut nichts, um mir zu gefallen. Er erzählt mir nie etwas von seinem Leben und fragt mich nicht nach meinem. Oft reagiert er ausweichend, manchmal sogar aufbrausend. Doch auch, wenn ich nicht verstehe, was er von mir will, gibt mir seine Gegenwart Sicherheit. Vielleicht die einzige Form von Sicherheit, die ich habe.
Ich steige in einen halbleeren Bus, in dem zum Glück keine dunkel gekleideten Typen mit Sonnenbrille, Hut und Handschuhen sind. Ich setze mich nach hinten, wo ich beobachten kann, wer ein- und aussteigt.
Eine Dreiviertelstunde später erreiche ich die Altstadt. Ein seltsamer Geruch nach altem Zeug und verbranntem Holz liegt in der Luft. Blasen aus schummrigem Licht schweben um die großen, an Drähten hängenden Leuchten zwischen den Häusern. Auch heute ist hier keine Menschenseele unterwegs. Als würde man sich in den Kulissen eines Dramas bewegen, und dieses Gefühl hält an, bis ich um ein paar Ecken gebogen bin. Die Bar, in der ich Roth kennengelernt habe, ist geschlossen. Ruhetag. Ich überquere die Straße zum Polizeirevier.
Drinnen geht es auch an diesem Abend zu wie in einem Ameisenhaufen. Ich suche in dem Gewimmel nach Roth, begegne aber stattdessen dem Blick von Kommissar Sarl, der ziemlich erstaunt scheint, mich zu sehen. Ich habe mich ja auch nicht bei ihm angekündigt. Er spricht gerade angeregt mit einem Uniformierten.
Ich winke ihm kurz zu und ziehe mich dann in eine Ecke zurück, um die Lage besser zu überblicken. Stehend, denn es gibt nicht einmal einen freien Sitzplatz.
Es dauert nicht lange, dann kommt Sarl zu mir.
»Alma, was machst du hier?«
»Ich hatte gehofft, dass es irgendwelche Entwicklungen gibt, die ich in meinem Artikel bringen kann.«
Sein Blick ist forschend. Er fragt sich, woher ich über den Stand der Ermittlungen Bescheid weiß.
»Wir haben tatsächlich etwas herausgefunden … Komm mit.«
Ich erkenne den Gang mit den vielen Türen an einer
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