Nacht aus Rauch und Nebel
von Schlafenden wie Wandernden in die inneren Stadtteile umzusiedeln. Einigen konnten wir Wohnungen in den leer stehenden Straßenzügen rund um den Palasthügel anbieten, die meisten jedoch mussten zunächst mit hastig errichteten Notunterkünften vorliebnehmen, etwa am Ufer des Hades, wo sich vor Kurzem noch die Pyramiden von Giseh in den Himmel emporgehoben hatten. Der Graue Bund organisierte die Umzüge geduldig. Dennoch hatten wir immer wieder mit überfüllten Straßen und Gedrängel zu kämpfen. Es waren einfach viel zu viele Menschen, die wir in Sicherheit bringen mussten. Nicht wenige der wohlhabenderen Bewohner Eisenheims weigerten sich, ihre Villen zu verlassen, oder versuchten, ganze Wagenladungen Schmuck, Porzellan, Teppiche und Kleidung mitzunehmen, wodurch die engen Gassen der Schattenstadt vielerorts endgültig unpassierbar wurden.
Dieses Chaos dauerte über eine Woche an. Erst eine weitere Bewegung des Nichts, bei der ein beträchtlicher Teil der Rue Monsieur Le Coq zerstört wurde, brachte die Leute wieder zur Vernunft und uns ein wenig Zeit, um zu verschnaufen und nachzudenken.
»Eigentlich lässt der Text doch nur diese Variante zu«, sagte Madame Mafalda und legte die geschwollenen Knöchel vor dem Kaminfeuer übereinander.
»Mhm«, stimmte der Großmeister ihr zu.
Zum ersten Mal seit Desiderius uns letzte Woche die weiteren Teile der Prophezeiung verraten hatte, saßen wir wieder im Turmzimmer in Notre-Dame zusammen und grübelten darüber, was das alles nun zu bedeuten hatte, meine Mutter, die wie eh und je ihre Maske trug, Mafalda, Fluvius und ich. Wir beugten uns über die Notizen des Großmeisters und versuchten, sie in die richtige Reihenfolge zu bringen, während der verwirrte Prophet im Nebenzimmer Kopfkissen zerriss und Marian und mein Vater draußen auf dem Platz den Kämpfern ihre Befehle für den heutigen Einsatz mitteilten.
»Ein Stern und ein Mädchen, deren Seelen verbunden, ein kaltes Herz, das vom Himmel fiel, von der Mutter verloren, der Tochter anvertraut. Noch ist Leben darin, das schon viel zu lange andauert und die Stadt in den Abgrund reißt. Und wenn nicht das Mädchen den Stern bewahrt, das Herz zurückbringt, so wird die Welt vergehen durch ihre Schuld, vergehen im Reich derer, die nicht mehr sind«, las ich mit zitternder Stimme die Variante vor, die uns am wahrscheinlichsten erschien. Meine Gedanken überschlugen sich. Mit dem Mädchen musste ich gemeint sein, der Stern war natürlich der Weiße Löwe, das alles hatte ich schon lange gewusst. Auch was die Dame erzählt hatte, stimmte also: Der Stein war ihr Herz, das zum Himmel aufgestiegen und im Augenblick meiner Geburt zurückgekehrt und seither ein Teil von mir war. Da meine Mutter wie der Kanzler unsterblich war, sprach die Prophezeiung wohl von ihrem Leben, das schon viel zu lange andauern und die Stadt in den Abgrund reißen würde. Also war es tatsächlich meine Mutter, die dafür sorgte, dass das Nichts immer weiter auf die Stadt zukroch. Doch der letzte Teil der Weissagung ließ mich schlucken. Und wenn nicht das Mädchen den Stein bewahrt, das Herz zurückbringt … Das konnte doch nur eines bedeuten.
»Wir brauchen den Stein«, seufzte Fluvius Grindeaut. »Wir brauchen den verdammten Weißen Löwen, von dem wir nicht wissen, wo er verborgen liegt.«
Ich räusperte mich. »Na ja –«, begann ich, doch meine Mutter fiel mir ins Wort: »Der Stein allein wird uns nicht retten«, sagte sie. »Ich habe viele Leben gelebt in den vergangenen Jahrhunderten. Mal gab ich mich als einfache Arbeiterin aus, mal arbeitete ich als Kräuterfrau in Krummsen, mal war ich Kämpferin des Grauen Bundes und zuletzt … Ihr wisst, ich war die Fürstin.« Sie seufzte. »Seit Floras Geburt haben Kasimir und ich den Stein in den Schatzkammern des Palastes aufbewahrt. Natürlich hatte mein Mann keine Ahnung davon, was er in Wirklichkeit war. Doch wichtig ist: Ich hatte all die Jahre über Zugang zu ihm. Viele Nächte lang habe ich ihn in den Händen gehalten und versucht, meinem früheren Ich nachzuspüren. Als Flora noch klein war, habe ich ihn manchmal in ihre Hände gelegt und beobachtet, wie er ein Lächeln auf ihrem Gesicht erscheinen ließ. Doch niemals hat der Kontakt zum Stein etwas an meiner leidigen Existenz verändert. Egal, wie oft ich ihn berührte, das Nichts konnte er nicht aufhalten.«
Ich griff nach der Hand meiner Mutter und drückte sie. »Aber was hat die Prophezeiung dann zu bedeuten?«
Fluvius Grindeaut
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